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An einem Faden

Auf Zehenspitzen über den glatten Steinboden huschend, schlich sich Grakk zur nächsten Ecke vor und presste seinen Rücken flach gegen den kalten Basalt der Burgmauer. Er konnte riechen, wie die Risse zwischen den Steinen ihren erdigen Geruch ausatmeten. Die Anspannung ließ ihn schwitzen, und er konnte fühlen, wie die herunterlaufenden Tropfen graue Spuren in den Ruß auf seinem Gesicht wuschen. Er griff in seinen Beutel und holte einen Lappen heraus, der um ein Stück Kohle gewickelt war. Mit beiden Händen drückte er ihn vorsichtig gegen das Gesicht, um die Feuchtigkeit aufzusaugen. Dann zerrieb er etwas Kohle zwischen seinen Händen und verteilte den Staub auf seinem Gesicht. Nachdem er seine Ausrüstung wieder eingepackt hatte, zog er seinen Umhang gerade und suchte ihn auf Spuren hellen Staubes von den Wänden ab, die ihn verraten könnten. Dann untersuchte er seine weichen Ledersohlen auf Sandkörner, die später unerwünschtes Knirschen von sich geben könnten, was unbedingt zu vermeiden war. Obwohl er es gewohnt war, sich geräuschlos fortzubewegen, wusste er, wie schnell Routine zu gefährlichem Leichtsinn werden konnte. Er musste sich nicht daran erinnern, dass die wichtigste Fähigkeit eines Diebes seine Unbemerktheit war, und das Verpatzen der eigenen Deckung war der sicherste Weg, umgebracht zu werden.

Er konzentrierte sich auf einen gleichmäßigen Atem und hörte auf Geräusche, die ihn den Korridor hinter der Ecke sehen lassen würden, ohne dass er dafür seinen Kopf herausstecken und sich zur Zielscheibe machen musste. Weiter entfernt konnte er den Lärm des feiernden Hofstaates ausmachen: Jubel und Gelächter, die Fiedel des Barden, das gelegentliche dumpfe Aufeinanderschlagen von Tonkrügen und seltener das Scheppern von Metall auf Metall. Er konnte fast die Ströme von Met riechen, die im königlichen Thronsaal flossen. Das leichte Rauschen des Windes, der um die Festung strich, verhinderte völlige Stille, aber bislang waren keine Schritte auf den Gängen in der Nähe zu hören. Abgesehen vom gelegentlichen schwachen Knistern der Pechfackeln entlang des Korridors blieb das Schloss selbst still. Mehr ließ sich seinen feuchten, kalten Mauern nicht entlocken.

Grakk bereitete sich darauf vor, zur nächsten Ecke vorzurücken. Er nahm sich Zeit, sich nur auf die kommenden Sekunden zu konzentrieren. Solange niemand mitbekam, dass Eindringlinge im Schloss waren, gab es keinen Anlass zu überstürzter Eile. Er nahm einen langsamen, tiefen Atemzug und führte sich die vor ihm liegende Passage vor Augen anhand der Pläne, die er mit seiner Gruppe vom ersten Außenposten an der Zugbrücke gestohlen hatte. Dann schnellte er um die Ecke in den Korridor, den er noch nie zuvor gesehen hatte, und erkannte sofort die Reihe offener gewölbter Fenster, die das blasse Licht des abnehmenden Vollmondes von der Linken einließen, und hielt geradewegs auf die Rechtsabzweigung am Ende der Passage zu, wo er nochmals pausierte für eine kurze Überprüfung, bevor er die nächste Ecke nahm. Obwohl er das dringende Bedürfnis verspürte, diese gutbeleuchtete Umgebung schnellstens zu verlassen, zwang er sich, noch einmal auf eventuelle Veränderungen zu horchen. Ihm fiel Meisterin Melôg ein, die ihn die Wege der Verborgenheit gelehrt hatte. Immer, wenn er von einer Übung eingeschüchtert gewesen war, hatte sie gelächelt und gesagt: “Dein größer Feind ist in dir selbst, Grakk. Überkomme Deine Furcht, und du wirst erfolgreich sein.” Er konzentrierte sich auf seinen Atem und wartete, bis seine Nervosität sich beruhigt hatte. Bei genauerem Nachdenken wunderte er sich, dass der Rückblick auf seine Jugend sich so anders anfühlte als das, was er in den letzten Monaten erlebt hatte. Er sah deutlich in seine Vergangenheit zurück, aber er schien sich selbst von außen zu betrachten, wie durch die Augen eines Anderen. Außerdem fragte er sich, warum er so wenige Erinnerungen an seine Kindheit hatte - sein Gedächtnis schien mit seiner Ausbildung in der Diebesgilde anzufangen. Er runzelte die Stirn leicht und zwang seine Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart. Jegliche weitere Ablenkung konnte tödlich sein.

Der fröhliche Lärm war jetzt etwas näher, und er konnte einzelne Stimmen ausmachen. Der Barde hatte gerade seine Melodie beendet und ließ eine kurze musikalische Pause im Tumult, bevor er sich dem nächsten Stück zuwandte.

Grakk wartete darauf, dass die Musik weiterging, bevor er um die nächste Ecke schlich und - dicht an die Wand gepresst - auf den Lärm zuging; er achtete darauf, nicht zu schnell zu werden, um keine Geräusche zu verursachen. Auf den Fußballen laufend, schienen seine weichen Lederschuhe kaum den Steinboden zu berühren. Wie eine große, zweibeinige Katze folgte er schattenartig dem geräumigen Gang, der ihn zum immensen, eisenbeschlagenen Portal des Thronsaals führte. In Gedanken prüfte er die Karte der Festung: Dieser Abschnitt des Weges war am kritischsten. Er betete, dass keiner der ahnungslosen Höflinge diesen Moment wählen würde, die Festlichkeiten zu verlassen auf der Suche nach einem Eimer Wasser, in den er den Kopf stecken könnte. Mit jedem Meter wurde der Tumult von grölenden Säufern hinter dem massiven Doppeltor lauter, und sobald Grakk die Kreuzung in der Mitte der Passage erreicht hatte, war er dankbar, nach links aus dem Hauptgang verschwinden zu können. Er hasste Kreuzgänge. Sie boten die wenigste Deckung und waren offen für Angriffe von allen Seiten. Sogar die besten Diebe scheuten sie wie Vampire das Weihwasser. Er presste sich flach gegen die abgewandte Seite der Ecke, die von den Türen nicht eingesehen werden konnte. Bislang war sein Vorankommen sehr gut gewesen. Er wollte das, was er erreicht hatte, nicht leichtfertig riskieren, ebenso wenig wie sein Leben.

Er nahm sich einen Moment, um seine Umgebung zu betrachten. Dieses Schloss war so perfekt gebaut und trotzdem so einfach. Er hatte nie zuvor Basaltquader gesehen, die groß genug waren, die gigantischen Bausteine abzugeben, aus denen diese Festung bestand. Außerdem war ihm in den dünn ausgestatteten Korridoren kein einziger Gegenstand untergekommen, der nicht einem offensichtlichen Zweck diente. Die Gänge waren nahezu leer bis auf die in regelmäßigen Abständen angebrachten Fackeln. Und obwohl er ein überzeugter Dieb war und sich daran erinnerte, sich auf diesen Plan eingelassen zu haben, kam es ihm jetzt in den Sinn, dass es eigentlich viel zu wagemutig war, sich in den bestbewachten Ort des Landes hineinzustehlen. Worauf hatten es die anderen eigentlich abgesehen? Sie hatten eine vage Vorstellung von ‘etwas Nützlichem in der königlichen Schatzkammer’, aber welchen Sinn machte es, in die Privatschatulle des Königs einzubrechen auf der Suche nach irgendeinem ominösen Artefakt, den sie noch nicht einmal kannten? Er gehörte nicht hierher. Irgendetwas in seinem Hinterkopf sagte ihm leise, dass jemand anders es für ihn entschieden hatte.

Er konzentrierte sich auf den Lärm des Gelages und vergewisserte sich, dass noch niemand von seiner Anwesenheit wusste: Das rauschende Fest verriet kein Anzeichen von Tumult. Ein Blick den Kreuzgang hinunter bestätigte die Grundrisse des Plans: Die unebenen Glasscheiben in den Fenstern auf der linken Seite ließen das Mondlicht vom Süden herein, bogen es sanft, so dass es unscharfe Muster auf die schimmernden Bodenplatten malte. Die Fenster zur Rechten blieben lediglich dunkle Nischen, bis zum Ende der Passage in einer ‘T’-Gabelung nach etwa 50 Metern. Die rechte Abzweigung musste in den Innenhof führen, der auf der riesigen Mauer thronte, welche die Fassade des Schlosses beherrschte. Es hatte keine Wachen mehr gegeben seit er und seine Kameraden die Außentore passiert hatten, daher war es relativ sicher, draußen im Hof ebenfalls keine erwarten zu müssen. Die königliche Elitegarde war vermutlich entlang der Galerie des Thronsaals postiert. Wenn er erstmal im Innenhof war, würde es leicht sein, an den Zinnen ein Seil zu befestigen und die anderen sicher hochzuziehen. Er fragte sich, warum er so sicher war, dass der Rest der Gruppe es bis zur inneren Mauer geschafft hatte, aber etwas in ihm sagte ihm, dass es so war.

Ein plötzliches Rumpeln der schweren Eichentür unterbrach Grakks Gedanken. Als die Tür knirschend protestierte, so gewaltsam aufgestoßen zu werden, floss das Gelächter und Gejohle von innen hinaus in den Kreuzgang. Er konnte hören, wie eine handvoll offensichtlich sturzbetrunkener Edler mit röhrendem Gelächter aus der Halle des Königs hinausstolperten. Sie waren auf der kurzen Seite des Kreuzes, daher war es sinnlos, zu rennen - auch wenn seine Beine gerne gewollt hätten. Daher musste er den Lärm, der aus der Halle strömte, nutzten und in Deckung gehen, solange die Trinker noch taub waren für das verräterische Rascheln hastiger Bewegung. Er schnellte hoch und kletterte in die nächste Fensternische auf seiner Seite des Ganges. Ihre Abmessungen gestatteten problemlos aufrechtes Stehen und boten ausreichend Platz, um sich vor Blicken entlang des Korridors zu verbergen. Grakk drückte seinen Rücken gegen die glatte Wand des Fensterbogens und zog langsam seinen Dolch aus dem Gürtel. Er beruhigte seinen Atem und horchte angestrengt auf Geräusche.

Die gehenden Gäste schlugen die schwere Tür mit offensichtlichem Vergnügen laut rummsend zu und blieben einen Moment stehen, um zu lachen. Grakk konnte zwei Stimmen unterscheiden. Ihrer Aussprache nach zu urteilen war er erleichtert, beide im momentanen Zustand als kampfunfähig einschätzen zu können. Sollten sie sich entscheiden, an seinem Versteck vorbeizugehen, würden sie ihn wahrscheinlich nicht einmal sehen. Nachdem das Gelächter verebbt war, folgte auf eine kurze Stille ein tiefer, voller Rülps und erneut aufröhrendes Gejohle. Ein dumpfer Schlag von Steingut auf Steingut verriet das Hauptgepäck der beiden, und nach einem unmissverständlich schlürfendem Zug aus ihren Krügen kündigten die schweren Schritte und das ständig grölende Lachen ihren Kurs auf die Kreuzung an. Grakk fühlte, wie sich sein Puls beschleunigte und versuchte, seinen Atem so gleichmäßig und leise wie möglich zu halten. Er konzentrierte sich völlig auf den Lärm der beiden Krakeeler, um jede irgend mögliche Information, die später wichtig sein konnte, herauszufinden. Die Schritte des einen von ihnen schlurften deutlich hörbar über den Boden.

“Hey, du verllausder, pestverbeulder Dreggsagg! ... Kannsde... Jesses! Kannsde dich nich’n bisschn leichder machn? Mussja ‘n ganzes Fass gesoffn ham, so schwer bissde.” Die Antwort war ein ausgedehntes Kichern, in das eine halbgemurmelte Entschuldigung vermischt war.

In diesem Augenblick wurden die Geräusche ein gutes Stück deutlicher. Sie hatten die Kreuzung erreicht.

“Aalso,... Was dengste, alder Kumbl,... wo gehnwer denn jedss lang von hia...?”

“Weislich, Bruder,...” Die Bemerkung wurde effektiv von einem vollen, runden Rülps unterstrichen.

“Aach wassss tsum... hey, lassmich blos in Ruhe - Mennsch, schteh’ grade, Kerl! Deine Mudder würdsich ja fürdich schähm...

...also guhd, Kumbl, lassma nach Hause gehn, wa?”

Als sie ein grauenhaft entstelltes Trinklied anstimmten, konnte Grakk deutlich hören, wie sich die schlurfenden Schritte in seine Richtung bewegten. Er spannte seinen ganzen Körper an und bereitete sich darauf vor, sich auf den ersten zu stürzen, dessen Blick - wenngleich das verschwindend unwahrscheinlich war - ihn treffen würde. Da er sich in ihrem toten Winkel befand, konnten sie ihn nur sehen, falls sie sich umdrehen sollten. Er versuchte, sich zu beruhigen: die Überraschung war auf seiner Seite. Sollte es sich als notwendig herausstellen, würde er sie schnell genug bekommen, um Lärm zu vermeiden. Außerdem waren sie sternhagelvoll und anscheinend unbewaffnet - er konnte keine metallischen Geräusche von ihnen hören. So stand er da wie eine gespannte und geladene Armbrust und wartete darauf, dass jemand über seinen Abzug stolperte - oder ihn ignorierte.

Lautstark bahnten sich die Trunkenbolde ihren Weg über den Korridor. Grakk holte tief Luft und begann, möglichst flach zu atmen, bevor sie seinen Blickwinkel betraten. Er sah zwei Höflinge in ziemlich durcheinanderhängender Kleidung; der kleinere stützte seinen Kumpanen, und beide hielten in der freien Hand einen großen Krug. Sie schlingerten und stolperten über den glatten Basaltboden, als wäre dieser ein steiler Berg, den es zu bezwingen galt. Glücklicherweise schien ihnen das Mondlicht leicht ins Gesicht, so dass sie die dunklen Nischen der Nordfenster sehr wahrscheinlich nur schlecht einsehen konnten. Während sie vorbeischwankten, sangen und lachten sie ununterbrochen und markierten ihren Weg mit gelegentlichen Met-Spritzern aus ihren wild schwingenden Krügen. Grakk hielt seinen Blick fest auf sie geheftet, bis sie eine angemessene Entfernung zwischen sich und den Fensterbogen gebracht hatten. Erleichtert, dass die Gefahr vorübergezogen war, schloss er die Augen und atmete langsam und kontrolliert aus.

Genau in diesem Moment schwang einer der Trunkenbolde in dem Versuch, einen musikalischen Höhepunkt seines grauenhaft verstümmelten Liedes zu unterstreichen, seinen Krug zu kraftvoll, um ihn im Griff zu behalten. Das Gefäß wurde nach hinten geschleudert und zog einen Kometenschweif von Flüssigkeit hinter sich her. Es ging mit einem gedämpften “Klong” zu Boden, verlor dabei seinen massiven Griff und kam einen Schritt weit von Grakks Fensterbogen entfernt in einer Pfütze süßen Gebräus zum Liegen. Dieser fuhr erschreckt hoch, riss die Augen auf und starrte ungläubig auf die Bescherung zu seinen Füßen.

“Lakor, du Klabbschtuhl! Nu gugg, wassde angerichded hassd!”

Der Kleine ließ seinen Kumpanen auf den Boden sinken und schwankte träge auf den zerbrochenen Krug zu.

Der Adrenalinschub in Grakks Hirn schrie auf ihn ein, er würde für einen Überraschungsschlag viel zu früh gesehen werden. Seine Beine versuchten, ihn zu überreden, den Gang runterzurennen, aber er wusste, dass es unmöglich war, sich zu bewegen, ohne sofort entdeckt zu werden. Grakk fühlte sich, als ob die Wände des Bogens ihn zerquetschen würden, der Stein der Mauern selbst schien in erwürgen zu wollen.

Die schweren, dumpfen Schritte des Höflings hatten den Krug fast erreicht. Der Mond schien ihm jetzt auf den Rücken; sein Gesicht lag im Schatten. Grakk war sich völlig sicher, angesehen zu werden. Gelähmt von Entscheidungsunfähigkeit bemerkte er nicht, wie der Dolch langsam durch seine zitternden Finger rutschte. Er schlug hell tönend neben seinen Füßen auf den Stein. Der Mann vor ihm riss seinen Kopf hoch und starrte jetzt genau in die Fensternische. Wie vom Donner gerührt brauchte Grakk eine Sekunde, um zu erkennen, dass er unentdeckt geblieben war, bis er sich selbst verraten hatte. Der Schock lähmte ihn.

“Ouh main Gooodd!” brüllte der Ritter. “Hhheilige Drachnscheise! AAADDN-TÄÄäder!”

Grakk’s Anspannung wurde endlich gesprengt. Er stürzte aus dem Fensterrahmen, riss seine Waffe an sich und schnellte vorwärts.

“FAAIIIND IMM SCHLOSS! WAAACHN!” Die Lungen des Mannes erwiesen sich als noch kraftvoller als er in seinen Liedern bewiesen hatte. Er stolperte rückwärts, um dem Hieb auszuweichen und schrie mit unverminderter Lautstärke weiter, dass ihn sogar der König selbst inmitten seiner lärmenden Feier hören musste.

“Aaa-LAAARRM! WAAaarrrrhhhgg...!” seine Stimme erstickte, als Grakks Linke ihm die Kehle zuschnürte und der Dolch sich in seinen Bauch grub. “Hol’ dich der Teufel!!” zischte Grakk durch die knirschenden Zähne das ungläubig starrende Gesicht an, während seine Klinge durch die Eingeweide des Verurteilten wütete. “Halt’s MAUL!!!” Er stieß ihn zurück. Sein Gegner fiel nach hinten über; der Kopf schlug hörbar knackend auf dem massiven Steinboden auf. Grakk schwang den Dolch in weitem Bogen durch seine Gurgel, um seiner rauchenden Wut Luft zu machen.

Er starrte auf die Blutpfütze, die sich unter dem Kopf seines Opfers bildete. Es überstieg sein Fassungsvermögen, weshalb er seine Waffe hatte fallen lassen. Er hatte schon in übleren Klemmen gesessen und immer die Nerven behalten. Wieder beschlich ihn dieses merkwürdige Gefühl, manipuliert zu werden.

Weiter unten im Flur brabbelte Lakor vor sich hin und bemühte sich, wieder auf die Beine zu kommen, die sein Gewicht nicht tragen wollten. Von beiden Seiten des Kreuzgangs konnte Grakk das Stampfen von schweren Stiefeln hören und das Schleifen von Schwertern, die in hastigem Lauf gezogen wurden.

Und dort stand er, mit zitternden Knien, ließ seine Waffe fallen und wartete auf seine Schlächter. Er konnte sich nicht gegen den deutlichen Eindruck wehren, dass ihm jemand äußerst übel mitgespielt hatte.

 

 

“Teufel auch! Ich glaub’s nicht!”

Stefan starrte den zwanzigseitigen Würfel an, der vor ihm auf dem Tisch lag. Dessen Oberseite zeigte deutlich eine ‘eins’.

“Diese Weinschläuche hätten nicht die leiseste Chance haben können, mich zu bemerken!”

“Haben sie auch nicht”, Christian musste grinsen. “das heißt, bis du anfingst, mit Besteck um Dich zu schmeißen.”

“Nun komm schon! Wie könnte ein Dieb mit so ‘ner Erfahrung einfach so seinen Dolch fallen lassen?”

“Hey, du weißt, dass ‘eins’ immer ‘verpatzt’ bedeutet. Du könntest versuchen, auf Armlänge in ‘nem Hausflur ein Mammut mit ‘ner abgesägten Schrotflinte zu erlegen - und wenn du trotzdem ‘ne ‘eins’ würfelst, durchlöcherst du dir halt statt dessen die Füße. So läuft’s eben.” Ebenso wie Christian waren David und Michelle hauptsächlich amüsiert von der Szene, die sie gerade mitangesehen hatten. Wenngleich tragisch, war es doch trotzdem der lächerlichste Vorfall des ganzen bisherigen Abenteuers.

“Und nebenbei bemerkt, ich hab’ zufälligerweise 98 von 100 für deine ‘Weinschläuche’ gewürfelt - nur damit sie sich umdrehen.” Christian konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. “Ich glaub’s einfach nicht, die hatten dich ja nicht mal gesehen, bevor du die Nerven verloren hast.”

Stefan senkte seine Stimme. “Das ist bescheuert. Diese Deppen konnten kaum den Weg aufs Klo alleine finden, egal, was für astronomische Zahlen du für sie würfelst.”

“Hey, Mann - komm mal auf’n Teppich”, unterbrach David sachte. “So sind die Regeln. Jetzt glaub bloß nicht, wir sind davon begeistert, dass dein fabelhafter Charakter sich grad selbst ausgetrickst hat. Wir beißen als nächste ins Gras, wenn uns nicht ein vorbeifliegender Schutzengel aufsammelt - wir warten immer noch auf dich Superhelden im Außenhof, schon vergessen? Sieh’s ein, Mann: du bist so tot wie der Londoner Zentralfriedhof.”

“Scheiße!” Stefan lehnte sich zurück. “Das war bis jetzt mein aussichtsreichster Charakter. Der hätte auf Stufe zehn schon Meister sein können. Mistig schwer, Diebe lebend in höhere Ränge zu kriegen.” Er schüttelte den Kopf und nahm den Charakterbogen vom Tisch. “Grakk”, stand da, “Rasse: Mensch, Klasse: Dieb. Waffenfertigkeiten: Dolch, Rüstung: keine, aktuelle Stufe: 6.

“Du solltest mal Dein Gesicht sehen!” schmunzelte Michelle. “Komm schon, ist doch bloß ‘n Spiel. Shit happens. Sollen wir deine Überreste auf dem Weg nach draußen aufsammeln und deine Familie benachrichtigen?”

“Ihr findet die Leiche ja eh’ nicht... wird nicht mehr viel übrig sein nach diesen Elitewache-Fleischwölfen. Ich schätze, es macht wohl nicht viel Sinn, die Erfahrungspunkte für den Kampf aufzuschreiben... wisst ihr was, ich finde, es sollte echt einen EP-Bonus fürs Sterben geben. Ich meine, ist doch wohl ‘ne ganz schöne Erfahrung, oder?” Er holte tief Luft und riss das Papier langsam in zwei Hälften. “Na, ich schätze, damit bin ich für heute raus.” Er stand auf und nahm seine Jacke vom Haken.

Christian versuchte, ihn aufzumuntern. “Hey, komm einfach morgen nach der Musikstunde vorbei und wir machen einen neuen Charakter für dieses Abenteuer, okay?” Stefan hatte diesen Charakter jetzt seit 3 Monaten gespielt, und nun musste er wieder ganz von vorne auf Stufe eins anfangen. Er würde es ganz schön schwer haben, wieder den Anschluss zu bekommen.

“Ja, werd’ ich wohl... wie auch immer.” Stefan war mit seinen Handschuhen beschäftigt.

“Nun komm schon,” sagte David. “Du siehst ja aus, als wärst du da unten im Kreuzgang abgemurkst worden. Nimm das Spiel nicht so furchtbar ernst!”

Stefan zog seine Jacke zu.

“Was soll’s, ich hoffe, ihr kommt auch ohne mich klar. Haltet meine Knochen in Ehren, Leute.” Er zog seine Mütze auf und griff nach der Klinke. “Bis später dann... Viel Spaß.”

Er zog die Tür hinter sich zu. Durch das Holz hörte er Christians gedämpfte Stimme fortfahren: “Also gut, Leute, ihr steht immer noch am Fuß der inneren Mauer, da hört ihr plötzlich oben Geschrei; klingt nach Ärger.”

“Jaja, den Rest kennen wir. Nix wie raus da.”

 

 Stefan fischte den Schlüsselring aus seiner Tasche und fing an, sein Fahrradschloss zu bearbeiten. Wie üblich bei kaltem Wetter weigerte es sich, sofort aufzugehen, und er musste einiges Schütteln und Rackeln anwenden, um sein mechanisches Streitross zu befreien.

Er hatte nicht bemerkt, wie kalt es schon geworden war, bis er den Wind im Gesicht hatte. Verdammt, dachte er, ich mache noch nicht mal 30 Sachen, und das fühlt sich schon an wie Polarwinter!

Er blinzelte gegen die Schärfe der kalten Nachtluft und raste die Alte Bachstraße hinunter. Dabei hatte er es so eilig, nach Hause zu kommen und ein wohlverdientes Bier auf seine Enttäuschung zu gießen, dass ihm der blaue Kombi von rechts völlig entging. Er bemerkte ihn erst, als er die wütende Hupe hörte, die ihn wegscheuchen wollte. Die Reifen quietschen nicht einmal auf dem Asphalt, sie schrubbten bloß über das dünne Eis, das die Straße überzogen hatte.

Der Wagen tötete ihn allerdings nicht. Das tat der Lampenmast, gegen den es ihn schleuderte. Er hatte das Pech, mit dem Nacken darauf zu treffen; seine Wirbelsäule brach sofort durch.

Er bemerkte nicht einmal, wie sein Rad unter der Stoßstange entlanggeschleift wurde, bis zu der Straßenlampe, unter der er lag.

 

 

“Scheiße auch!” Asmira ärgerte sich. “Wo hab’ ich bloß meinen Kopf? Ich hab’ nicht aufgepasst!”

“Was ist denn?”

“Mir ist grade einer meiner Menschen verunglückt. Saudumm gelaufen. Er ist mit dem Rad die vereiste Straße runtergejagt. Ich dachte nicht, dass dieser Wagen so schnell da wäre. Offensichtlich ist der auch gerast... nicht, dass das jetzt noch was nutzen würde.”

“Oh je, was für ‘ne dumme Geschichte...! War das nicht einer deiner Lieblinge?”

“Das kannst du aber annehmen. Ich hab’ so viel Arbeit in den investiert. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich dem aus der Patsche geholfen habe, als er ein kleines Kind war. Hab’ ihn sogar mal vor dem Ertrinken gerettet.”

“Sei nicht zu hart mit dir. Du kannst nicht allen gleichzeitig helfen.” Ren musterte Asmira.

“Weißt du, wie überarbeitet du aussiehst? Du solltest mal fragen, ob dein Dienstplan ein bisschen abgespeckt werden kann. Mach dir keinen Vorwurf draus. So was passiert andauernd.”

“Ich weiß, aber ist es nicht unsere Aufgabe, solche blöden Unfälle zu verhindern? Ich meine, wenn wir’s nicht tun, wer macht’s dann?”

“Du machst einen völlig normalen Schuldkomplex durch. Das gibt sich wieder, glaub’ mir. Wenn du dich einmal dran gewöhnt hast, ist es nur noch halb so wild.”

Asmira dachte kurz darüber nach.

“Ich schätze, du hast recht. Aber ich frage mich trotzdem, ob die was ahnen. Ich meine, werden die nicht misstrauisch, wenn manche Sachen so danebengehen?”

“Meine Güte, du bist wirklich neu hier. Hör mal, es ist nicht unser Job, eine perfekte Welt zu bauen - wir sind bloß hier, um den Schaden in Grenzen zu halten.”

© Uwe R. Hoeppe

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