Diese Arbeit habe ich Ende 1994 in einem Seminar zu Kafka-Interpretation verfasst. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um eine Interpretation des Romans, aufgehängt an der zentralen "Türhüter-Parabel".

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Kafkas "Prozess"

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Die Funktion der "Türhüter - Legende" im Romanzusammenhang

Vorwort

In der Betrachtung von Franz Kafkas "Prozess" liegt die Vermutung nahe, dass die Erzählung "Vor dem Gesetz" des Domkapitels eine besondere Stellung einnimmt: Die Parabel weist viele Parallelen zum Romanwerk auf, und die Aufmerksamkeit des Lesers wird auf eine Meta-Ebene gelenkt, auf der die möglichen Reflexionen des Rezipienten zum Roman aufgegriffen und Interpretationen zur sogenannten "Türhüter-Legende" angeboten werden, die auf das Gesamtwerk übertragbar erscheinen. Ich werde im folgenden einige Parallelen zwischen dem Roman und der Erzählung "Vor dem Gesetz" aufzeigen und im anschließenden Fazit eine mögliche Interpretation dieser Beobachtungen vorschlagen. Zuvor möchte ich jedoch noch auf eine etymologische Beobachtung hinweisen, die ich für die Interpretation unter Einbeziehung biografischer Daten des Autors für wichtig halte:

Beschäftigt man sich mit der Stellung der »Türhüter-Legende« im Roman, so ist es nicht unbedeutend, wie der Dichter selbst die Relationen der einzelnen Elemente seiner Erzählung sieht. So ist das vielleicht wichtigste und aussagekräftigste Argument hierfür, dass Kafka zu Lebzeiten nur die Geschichte des Türhüters, nicht aber den Prozessroman selbst veröffentlicht hat. Er hat sich über diese »Legende« sehr zufrieden geäußert, und in der Tat ist die ungeheure Dichte dieser Parabel beispielhaft. Man darf begründeterweise davon ausgehen, dass Kafka diese Erzählung als Kern seines geplanten Romanwerkes ansah, in dem sich das Grundproblem des Prozesses kondensieren sollte. So ist die weitere Entstehungsgeschichte des Werkes auch nicht weiter verwunderlich zu verfolgen, in der Kafka zunächst Anfang und Ende seines Romans fertigstellte, und erst dann dazu überging, die dazwischenliegenden Kapitel zu schreiben. Man kann wohl ohne Unterstellung behaupten, dass mit der Türhüter-Erzählung quasi ein Resümee vorliegt, das der Dichter mit dem Schaffen des Prozess-Romans zu elaborieren gedacht hatte.

Hierbei musste Kafka jedoch viele Rückschläge hinnehmen, denn er zeigte sich stets mit dem Fortschreiten seiner Arbeit äußerst unbefriedigt und schaffte es bis zu seinem Tode nicht, eine Version zu verfassen, die er für veröffentlichungswürdig hielt; genauer gesagt: Er stellte seine Arbeit niemals fertig, sondern hinterließ nur Fragmente, deren Korrelationen zueinander unklar blieben. So ist es in Anbetracht dieser Unfertigkeit und Kafkas Perfektionismus nur allzu nachvollziehbar, dass dieser seinen Freund Max Brod darum bat, die unvollkommenen Bruchstücke nach seinem Tode zu vernichten. dass dieser das Vermächtnis Kafkas aber als zu kostbar ansah und stattdessen den Nachlass zu ordnen versuchte, resultierte schließlich in der Romanfassung des Werkes. Die problematische Zusammensetzung dieses Stückes gab daher laufend Anlass zur Kritik an der Sequenz der Kapitel, der Bedeutung der unvollendeten und nicht im Roman eingebundenen Kapitel, und den Absichten Kafkas, wie er seine Arbeit vollendet hätte. Abgesehen von der ohnehin schon geradezu kryptischen Verschlüsseltheit, die für Kafka so typisch ist, kommt hier also auch noch die Unsicherheit über das Ungeschriebene hinzu.

Parallelen der Erzählung zum Roman

Der weite Weg zur Erkenntnis

Nimmt man also die Türhüter-Legende (S. 229 ff.) als Kernpunkt und zugleich Rekapitulation (wie auch Vorausdeutung) des Romans an, so muss man hier die genauen Parallelen der beiden Komplexe betrachten: Der "Mann vom Lande" kommt von weither angereist, um Eintritt in das "Gesetz" zu erlangen. Was hat dies mit der Geschichte K.'s gemeinsam? Zunächst erscheint der Mann vom Lande hier in einem völlig anderen Licht, weil seine gesamte Motivation und sein bisheriger Lebenslauf, mit wenigen Worten umrissen, keine große Ähnlichkeit zur Hauptfigur des Romans aufweist: Josef K. wehrt sich zunächst beharrlich gegen den Einfluss, den das Gericht (und das Gesetz dieses Gerichtes) auf ihn ausübt, ja er leugnet gar seine Legitimation. Hier scheint es fürs Erste keine Verbindung zu geben. Untersucht man jedoch K.'s Einstellung gegenüber dem Gefängnisgeistlichen in der Domszene, so wird hier schnell deutlich, dass sich seine Haltung gegenüber dem Gericht grundlegend geändert hat: Mit der steigenden Erkenntnis, dem Gericht nicht entgehen zu können, geht er zunehmend auf die ihm von der ominösen, unsichtbaren Behörde angetragene »Realität« ein. Hatte er zuvor noch alles als einen "groben Spaß" (S. 10) betrachtet und später beim Anblick der im Sitzungssaal versammelten Menge vom "angeblichen Gericht" (S. 55) gesprochen, so beschleichen ihn später unausgesprochene Zweifel über die »Wirklichkeit« des Gerichtes, das er zuerst für nichtig angesehen hatte. Schließlich im Gespräch mit dem Geistlichen hat er das Gericht als etwas sehr Gewichtiges erkannt, gleichwohl er kein Konzept von seiner Bedeutung hat - hier wird nur klar, dass der Prozess unbemerkt in den Mittelpunkt seines Lebens gerückt ist, obwohl er noch nicht einmal die Anklage kennt. Zu diesem Zeitpunkt, da er erkennt, wie tief er durch seine Überheblichkeit bereits in den Strudel der Verurteilung gerutscht ist, hat er allerdings auch schon völlig den Überblick verloren, da er sich zuvor geweigert hat, der Logik des Gerichts zu folgen. Zu spät erkennt er, dass sein Prozess als reine Gerichtssache auch ausschließlich den Regeln des Gerichts folgt. Da er den gesamten Behördenkomplex aber per se ablehnt, kann er auch keinerlei Durchblick durch seine eigene schleichende Verurteilung erlangen. Nun, da er langsam die Macht des Gerichtes über ihn erkennt und verzweifelt versucht, seine eigene Nachlässigkeit zu überholen, verstrickt er sich in Detailfragen, die das Gericht selbst durch den Geistlichen aufbürdet. Er ist unfähig, sich einen eigenen Überblick zu verschaffen und lässt sich stattdessen von dem Gefängniskaplan wie an der Hand herumführen und seine Schritte und seinen Blick lenken. An diesem Punkt der inneren Wandlung K.'s erkennen wir die anfangs so unwahrscheinliche Ähnlichkeit von Josef mit dem "Mann vom Lande". Plötzlich sind sich beide in ihrer Absicht sehr nahe: Beide suchen nach "Eintritt in das Gesetz", nach Verständnis der Vorgänge, die ihre Geschicke lenken. Denn beide haben - bewusst oder unbewusst - die Macht erkannt, die ultimativ ihr Leben bestimmt: das Gesetz. Diesem Gesetz sehen sie sich hilflos ausgeliefert, sie haben kein Verständnis von seiner Arbeitsweise. Religiöse und philosophische Interpretationen sprechen hier oftmals von der Sinnfrage der menschlichen Existenz, dem Streben, die höhere Bedeutung des eigenen Lebens und Tuns zu erfahren.

Die Einfalt der Protagonisten

Abgesehen von dem Weg K.'s und des Mannes vom Lande teilen beide auch eine zunächst wenig einleuchtende Gemeinsamkeit. In dem Mann zeigt sich der prototypische Landbewohner, der »sein Glück sucht« und in die Stadt geht, um an der menschlichen Kultur teilzuhaben. In seiner Einfalt als einfacher Bauer zieht es ihn zum höchsten für ihn vorstellbaren Gut: dem Gesetz, das das friedliche, zivilisierte Zusammenleben aller Menschen ermöglicht und dessen Verständnis ihm die größte Bildung und Erleuchtung bringen soll. In seiner absoluten Hochachtung dieses Gesetzes erkennt er den Türhüter als legitimen Sendling an und beachtet sein Verbot, einzutreten. Ganz gleich, welche Anstrengung er auch immer unternimmt, Eintritt zu erlangen, muss er doch immer wieder scheitern - bis zu seinem Tode. Genau wie K. ist der Mann in der Engstirnigkeit seines eigenen Denkens gefangen: Er geht den Antworten des Türhüters in die Falle, indem er nicht weiß, wie das Denken des Türhüters und die Logik des Gesetzes funktioniert. Der Mann vom Lande wird in seiner vermuteten Herkunft als Bauer, auf jeden Fall aber als jemand, der mit dem städtischen Leben und erst recht mit den Umgangsformen höherer kultureller und gesellschaftlicher Kreise nicht vertraut ist, zur Musterfigur des Getäuschten, der gar nicht weiß, dass die »Täuschung« in ihm selbst liegt: Wäre er gebildeter, so wüsste er die Antworten des Türhüters richtig einzuordnen und würde möglicherweise Zutritt zum Gesetz erlangen. Auf den ersten Blick scheint diese »Einfalt«, d.h. Unbedarftheit nicht auf K. übertragbar; betrachten wir aber diesen einmal als Person: Prokurist einer großen Bank, offenbar erfolgreich im Beruf, aber scheinbar unfähig oder unwillig, feste soziale Bindungen aufzubauen - so erscheint K. als perfekt funktionierendes Rädchen im großen Getriebe der kommerziellen Gesellschaft - zu dem Preis der menschlichen Verarmung: speziell das Verhältnis zu seiner Mutter zeigt deutlich seine Unfähigkeit, menschliche Qualitäten zu zeigen. In diesem Punkt liegt die geistige Armut K.'s, die ihn mit der Naivität des Mannes vom Lande verbindet: Er ist in seinem mathematischen Denken, das sein Handeln als erfolgreicher Prokurist bestimmt, so sehr gefangen, dass er sich unfähig zeigt, mit einer Situation fertigzuwerden, für die er kein festgelegtes »Patentrezept« hat. Er ist ebenso blind wie der Mann, der, obwohl er angeblich die Möglichkeit gehabt hatte, einzutreten, keinerlei Verständnis für die logischen Mechanismen des Gesetzes hat. Um die Äußerungen des Türhüters richtig zu interpretieren, hätte dieser ein Vorwissen haben müssen, dass selbst den seinerseits ebenfalls relativ ahnungslosen Wächter weit übertroffen hätte. Dass er das natürlich nicht haben konnte, zeigt die Fatalität, an der der Mann und K. scheitern - denn beide haben keinerlei Verständnis für das Funktionieren des Gerichts / Gesetzes, und K. sucht ja, selbst nachdem er seine generelle Ablehnung der Behörde überwunden hat, nach Wissen über das Gericht an den skurrilsten Stellen, die schon fast den Eindruck erwecken, sie seien nur zu seiner Verwirrung in seinen Weg gestellt worden: Die Wächter und der Aufseher, die ihn festnehmen, der Untersuchungsrichter, der Gerichtsdiener, der Advokat, ja sogar und ganz besonders der Gefängniskaplan und all die vielen anderen dubiosen Bediensteten des Apparats geben ihm alle nur den Anschein, dem Rätsel näherzukommen; in Wirklichkeit verstrickt er sich mit jedem Gespräch tiefer in die unauflöslichen Konfusitäten, die ihn zermürben und am Ende sogar geistig völlig brechen: Er akzeptiert seine Hinrichtung als notwendig und recht. All diese Figuren finden ihre Verkörperlichung in dem Türhüter, dessen Antworten den Mann vom Lande auch mehr verwirren als alles andere. Genau wie K. versucht der Mann mit allen ihm zu Verfügung stehenden Mitteln, den Türhüter zu überreden, ihm Einlass zu gewähren; er geht sogar so weit, sein ganzes Leben neben dem Tor zu warten, bis sein eigener Tod ihn einholt und seinem unerfüllten Leben ein jähes Ende setzt.

Bestechung statt Regeltreue

Er kommt aber nicht im Traum auf die Idee, dass es einen »legalen« Weg ins Gesetz geben könnte. Indem er seine ganze Kraft darauf verwendet, den Wächter zu überreden, versucht er ja, gegen eine bestehende Regel zugelassen zu werden. Er will den Türhüter dazu bringen, ein Auge zuzudrücken. Genau das ist diesem aber vollständig unmöglich, schließlich dient er dem Gesetz, wie darf er es also verletzen? Dadurch ist es dem Mann nicht möglich, seinen eigenen Eingang in das Gesetz zu durchschreiten, denn er will ihn ohne Berücksichtigung der existierenden Regeln passieren. Auf genau die gleiche Art und Weise versucht K., sich aus der Affäre zu ziehen: Er macht Anstalten, das Gericht zu unterwandern, zu beeinflussen, quasi sich durchs Hintertürchen davonzustehlen. Indem er zu vielen dem Gericht nahestehenden Personen Kontakt aufnimmt und versucht, diese für sich zu gewinnen, strebt er eine Übertölpelung seines Prozesses an. Er fasst das Gericht lediglich als Summe aller Beteiligten auf, und diese einzelnen Beteiligten hält er in irgendeiner Form für korrupt - daraus folgert er, man müsse nur an genügend vielen Stellen Bedienstete bestechen, um wie bei einem Kartenhaus den Kollaps des Gesamtsystems zu bewirken. Er zieht kein einziges Mal die Möglichkeit in Betracht, bei Gericht überhaupt auch nur seine mysteriöse Anklage in Erfahrung zu bringen. Er spielt bewusst gegen die Regeln des Gerichts, zuerst aus Überheblichkeit, später aus Desinteresse und schließlich aus Verzweiflung über den Mangel an Alternativen. Gerade hierin wird das Versagen K.'s und des Mannes deutlich: Beide streben nach dem Gesetz, wollen aber auf ungesetzliche Art und Weise dorthin.

Stillschweigende Akzeptanz

In diesem Zusammenhang klärt sich auch das mysteriöse Bild von dem Eingang ins Gesetz, der nur für den Mann vom Lande allein bestimmt war. Zwar hätte nur er dieses Tor passieren können - denn jeder andere hatte wiederum seine eigene Tür - aber er musste vorher doch noch den Anforderungen gerecht werden, die als Bedingungen für den Eintritt gesetzt waren. So bestand noch die begründete Möglichkeit, der Mann könnte eines Tages sein »Fehlverhalten« einsehen und von alleine auf die Regeln kommen, die ihm abgefordert wurden, die er aber nicht selbstständig hatte erschließen können. Folgerichtig musste der Eingang offenbleiben, solange das Leben des Mannes währte. Dass dies für ihn freilich nur eine Bestärkung seiner Fehlannahme, er könne mit seinen Mitteln den Eingang erwirken, sein konnte, ist die Tragik des Unverständnisses sowohl K.'s als auch des Mannes für die Mächte, die ihr Schicksal formen, denn auch für K. ist sein Prozess ein individueller Zugang zum Gericht und dem dahinterstehenden Gesetz, den zu öffnen er unfähig ist.

Man muss bei dieser etwas idealtypischen Deutung allerdings auch auf die möglichen Komplikationen hinweisen, die sich für K. im Falle einer anderen Einstellung zum Gericht ergeben hätten können. Wurde bisher der Anschein erweckt, der Mann vom Lande und besonders K. hätten den Sinn ihrer Existenz mit dem Eintritt in das Gesetz erreichen können, so ist hier der Fall des Kaufmannes Block von Interesse: Dieser hat - im Gegensatz zu K. - seinen Prozess von Anfang an ernst genommen und sich damit aufgerieben, sich den erniedrigenden Prozeduren der Verhandlung zu unterwerfen. In der Konsequenz macht er sich zum Sklaven der Gerichtsbarkeit, was sehr deutlich in seiner Beziehung zum Advokaten hervortritt. Gerade dieser Anblick ist es ja auch, der K. davor zurückschrecken lässt, sich der Monstrosität des Gerichtes auszuliefern. Es darf also keinesfalls davon ausgegangen werden, K. eine einfache Schuld zuzuschreiben, er hätte sein Gericht nicht ernst genommen. Wie immer bei Kafka scheint es hier generell keinen Ausweg zu geben - egal, welchen Weg man einschlägt, das düstere Ende ist schon immer abzusehen. Gerade darauf basiert die Trübsinnigkeit des gesamten Werkes, die es stets ermöglicht, dem ahnungslosen Protagonisten alle nur denkbaren Verantwortungen zuzuschreiben und ihn in letzter Instanz immer an seinem Elend selbst die Schuld zu geben.

Die Vorausdeutung des Todes

Gerade in dieser Unausweichlichkeit des tragischen Endes tritt hier die Parallelität der Todesthematik von K. und dem Mann vom Lande hervor: Für den Mann ist sein ganzes Leben, das er vor den Mauern des Gesetzes verbringt, ein Hoffen auf Einlass und die Erfüllung seines Verlangens nach Sinngebung in seinem Leben. Da er es nicht schafft, Eintritt in das Gesetz zu erwirken, aber auch nicht resigniert aufgibt und wieder auf das Land nach Hause geht, bleibt er bis zu seinem Tode durch Altersschwäche vor dem Tor sitzen. In der Stunde seines Todes erfährt er, dass der Eingang nur für ihn bestimmt war - und stirbt. Für K. ist das Erfahren dieses Endes eine Vorausdeutung seines eigenen Todes - als Versagen, das Gesetz zu erkennen und zu achten. Er wird hingerichtet, weil er sich über das Gericht gestellt hat und nicht willens war, seinen Prozess zu führen. Hier wird aber auch der erste wichtige Unterschied von K. und dem Mann deutlich: Josef K. stirbt nicht nach Jahren von Zermürbung durch den Prozess, sondern gewaltsam, zwar gleichsam zerrüttet, aber durch eine Messerklinge. In diesem Teil der Parabel ist der Mann vom Lande eigentlich nicht mit K., sondern wesentlich passender mit Block zu vergleichen: Dieser führt seit fünf Jahren seinen völlig aussichtslosen Prozess, und er ist bereits beträchtlich gealtert und geschwächt durch seine Anstrengungen, das Verfahren nach den Regeln der Justiz zu führen. Er hat darüber seinen früher gut laufenden Betrieb bis zur fast vollständigen Aufgabe vernachlässigt und bringt große Teile seines Lebens in einer winzigen abgesperrten Kammer zu, in der er nur Luft zum Atmen und eine Kerze zum Lesen von Gesetzestexten hat. An ihm wird die totale Versklavung der Angeklagten durch den Gerichtsapparat überdeutlich, die allen denjenigen droht, die sich auf die Spielregeln des Gerichtes einlassen. Genau dies tut der Mann vom Lande auch: Er hält sich an das Verbot des Türhüters, einzutreten, obwohl berechtigte Zweifel an der Kompetenz wie auch an der Ehrlichkeit des Wächters angebracht sind. Das Resultat ist die totale Abhängigkeit des Angeklagten vom Gericht, die ihn langsam aber sicher in den Tod der Verbitterung über die eigene Ohnmacht und den ungeklärten Vorwurf, ein schlechter Mensch zu sein - die nie erhobene Anklage nämlich - treibt. Als Kontrast dazu steht K.'s »uneinsichtiges« Verhalten, sich dem Gericht zu verweigern - und die Folgen: Nachdem er ein Jahr lang von den Angehörigen des Gerichts mit indirekten Vorwürfen und Schuldzuweisungen überhäuft worden und damit zum Schluss - quasi im Schnellverfahren - genauso zermürbt worden ist wie Block in fünf Jahren Verhandlung, kommen am Vorabend seines 31. Geburtstages zwei "halbstumme verständnislose Herren" (S. 242), um ihn in einem Steinbruch hinzurichten. Hier tritt wieder überdeutlich die Fatalität von Kafkas Welt hervor, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint - und wahrscheinlich auch nicht soll.

Die Anonymität des Gesetzes

Ein weiterer Punkt des Romans, der in der Legende Ausdruck findet, ist die abstrakte Anonymität des »Gesetzes«. Sowohl K. als auch dem Mann vom Lande tritt das Gesetz stets nur in der Form seiner Diener entgegen. Diese sind zwar Bedienstete und auf ihre Weise Teil des Gesetzes, doch auch sie verstehen es nicht. Sie beherrschen lediglich den alltäglichen Umgang mit den höheren Instanzen, von denen sie abhängen, doch keiner von ihnen hat selbst eine Vorstellung vom Gesetz. Das einzige Konzept, das sie haben, ist die Unfehlbarkeit des Gesetzes. So behauptet der Gefängniskaplan, das Gesetz und seine Diener seien "dem menschlichen Urteil entrückt" (S. 236); die Wächter, die K. verhaften, fragen verständnislos: "Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?" (S. 13). Alle Handlanger des Gerichts definieren das »Gesetz« stets nur axiomatisch, unerklärt, unhinterfragbar. Es existiert einfach für sich und legitimiert sich aus sich selbst in der Tatsache, über alles zu herrschen. In der Türhüterlegende wird diese Auffassung von Gesetz genauso kritiklos dargestellt. Das hat zur Folge, dass solche Behauptungen des Türhüters, er sei "mächtig", und doch nur der "unterste Türhüter", und die Warnung vor den Wächtern hinter ihm, "einer mächtiger als der andere" (S. 229), zur bloßen Kulisse werden; axiomatisch, unwiderlegbar, unantastbar. Dies reiht sich nahtlos in die Darstellung der »Verkörperung« dieses Gesetzes. Im Roman betritt K. zwar einen Gerichtssaal, aber er liegt an einer Stelle, wo man kein ordentliches Gericht erwarten würde. Dieser Saal ist gefüllt mit zunächst gewichtig erscheinenden Gestalten, aber bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass diese Gesellschaft auf einer Theaterbühne einen schlüssigeren Eindruck machen würde. Er wird einem Untersuchungsrichter gegenübergestellt, doch die Unterlagen, in denen dieser liest, scheinen genauso fragwürdig wie seine pornografischen "Gesetzestexte". Die Liste dieser Merkwürdigkeiten ist lang, und mit jedem einzelnen Punkt verstärkt sich das Gefühl, hier auf keinen Fall vor einem mit normalen Maßstäben zu messenden Gericht zu stehen. Dies findet sich bei genauer Betrachtung in der Türhüterparabel wieder: Das Bild, das der Wächter vom Inneren des Gesetzes entwirft, ist für den Mann vom Lande völlig uneinsichtig: Da wird Ebene um Ebene von immer mächtigeren Wächtern gehütet, wo man doch annehmen sollte, dass das Gesetz jedem rechtschaffenen Bürger offensteht. Auch ist das eigentlich Sichtbare, dem der Mann gegenübersteht, mit keinem Wort erwähnt; das Gesetz bleibt ein abstraktes und ungreifbares Konzept. Genauso ist für K. der über ihn urteilende Behördenapparat völlig undurchschaubar, und jede Information über seine Struktur stiftet nur noch mehr Verwirrung.

Freiwilligkeit und Zwang

Als K. auf die Erzählung der Parabel sofort antwortet "Der Türhüter hat also den Mann getäuscht" (S. 231), spricht er ohne es zu erkennen ein zentrales Problem seiner eigenen Situation an: Indem er unterstellt, der Wächter habe dem Mann absichtlich falsche Auskunft erteilt und ihm somit widerrechtlich den Eintritt verweigert, sieht er den Türhüter als bloßen Hochstapler, der über seine Befugnisse hinausgeht. Er geht aber in der Konsequenz dieser Meinung nicht so weit, die Macht des Wächters zu hinterfragen; dieser Annahme folgend erwächst die Stärke des Türhüters, mit der er sich brüstet, nämlich ausschließlich aus dem Glauben, den der Mann seinen Worten schenkt, wenn man so will, seiner Überzeugungskraft. Dieses Motiv in seinem eigenen Prozess wiederzufinden, ist K. unfähig, weil er sich vom Gefängniskaplan wie an einer kurzen Leine durch die Meinungen führen lässt, die das Gericht ihm erlaubt bzw. aufnötigt. In der Legende ist in der Tat fraglich, was überhaupt passieren würde, wenn der Mann ohne Erlaubnis das Tor passieren würde. Auf jeden Fall ist das eine Möglichkeit, die K. nicht betrachtet, und in diesem Punkt ist es kritisch, Parallelen zu ziehen: Für Josef K. ist es gar nicht möglich, direkt durch ein verbotenes Tor zu gehen, denn er hat gar keines. Seine symbolisches Äquivalent zum Tor des Gesetzes ist sein ungezieltes Bestreben, die Funktionsweise des Gerichtes zu entlarven. Hier hat er aber keinen konkreten Ansatzpunkt, vielmehr verstrickt er sich ja in immer minutiöseren und unschlüssigeren Betrachtungen über die Personen, die das Gericht ihm schickt. Auf jeden Fall sind aber Übereinstimmungen insofern bemerkenswert, als dass K. selbst die gleiche Obrigkeitsgläubigkeit wie der Mann vom Lande an den Tag legt und möglicherweise erst dadurch zum Opfer der Behördenwillkür wird. Die Wächter, die ihn verhaften, wenden keine Gewalt gegen ihn an, ja sie berühren ihn nicht einmal. Das einzig Konkrete, was über die rein verbale Interaktion hinausgeht, ist das Essen des für K. bestimmten Frühstücks. Hier stellt sich genau wie in der Legende die Frage, was passiert wäre, wenn K. die Wächter einfach ignoriert und zur Arbeit gegangen wäre, somit also gleichsam das Tor, das man ihm zu versperren suchte, einfach mit keiner als seiner eigenen Erlaubnis durchschritten hätte. Möglicherweise wäre das die einzig wahrhaftige Entscheidung gewesen, die seine nie erhobene Anklage null und nichtig gemacht hätte - seinem eigenen Gesetz, seinem Gewissen zu folgen, das ihm keine Schuld vorwarf und damit eine Verhaftung nicht hinnehmen konnte. Sogar seine Henker zerren ihn nicht gewaltsam aus dem Haus, er geht vielmehr freiwillig mit ihnen, ja er führt sie am Ende sogar selbst und versagt nur in seiner letzten "Pflicht [...], das Messer [...] selbst zu fassen und sich einzubohren" (S. 244). Es wäre denkbar, dass alles, was passiert, nur stattfindet, weil K. es zulässt. Er stellt bei all seinen Zweifeln gegenüber dem Gericht doch nie dessen wahre Grundlage, nämlich seine passive Anerkennung in Frage. Indem er an das Gericht glaubt, schafft er die Realität, die das Gesetz zur Wirklichkeit werden lässt. Sogar der Geistliche weist ihn explizit auf die »Freiwilligkeit« seines Prozesses hin: "Das Gericht will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf wenn Du kommst und es entlässt Dich wenn Du gehst." (S. 238) Den gleichen Punkt spricht er auch schon vorher im konkreten Bezug auf die Türhüterlegende an: "Nun ist der Mann tatsächlich frei, [...] Wenn er sich auf den Schemel seitwärts vom Tor niedersetzt und dort sein Leben lang bleibt, so geschieht dies freiwillig." (S. 235) Es bleibt zu fragen, ob diese »Freiwilligkeit« tatsächlich so einfach ist, wie sie erscheint, oder ob damit verbundene Notwendigkeiten nicht doch eine freie Wahl der Alternativen unmöglich macht; auf jeden Fall aber kondensiert sich auch hier überdeutlich Josef K.'s Schicksal in der Legende des Türhüters.

Berufung auf unsichtbare Instanzen

Ein weiterer Punkt, der sich auf die Beschreibung der Struktur des »Gesetzes« bezieht, macht Parallelen zwischen K.'s Welt und der des Türhüters deutlich: Nach dem Grund seiner Verhaftung verlangend, entgegnen ihm seine Wächter zunächst nur :"Solche Fragen beantworten wir nicht.", und als er nicht lockerlässt, verweisen sie ihn darauf, dass "die hohen Behörden, [...] ehe sie eine solche Verhaftung verfügen, sich sehr genau über die Gründe der Verhaftung und die Person des Verhafteten unterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum." (S. 12). Auch der kurz darauf erscheinende Aufseher kommentiert nur eher lapidar: "Diese Herren hier und ich sind für Ihre Angelegenheit völlig nebensächlich, ja wir wissen sogar von ihr fast nichts." (S. 18), und K. wird den Grund seiner Verhaftung bis zu seinem Tode nicht zu hören bekommen. Dieses anonyme Verweisen auf verborgene, unberührbare Instanzen gibt der Verhaftung einen bitteren Beigeschmack völliger Willkür im Sinne eines totalitären Polizeistaates. Auch bei seinem Besuch des Untersuchungsgerichts merkt K. nur ein weiteres Mal, dass er hier die Verantwortung für seine Festnahme nicht erfahren wird, und völlig gleichgültig, wie er auch versucht, obere Richter zu erreichen, er kommt dem Grund seiner Verhaftung niemals näher - sie bleibt ein völliges Mysterium, das seinerseits durch seine beharrliche Abwesenheit Spekulationen über die Schuldfrage zulässt. Diese völlige Unberührbarkeit des Gerichtes findet sich in der Türhüter-Erzählung in der Absolutheit des »Gesetzes« wieder. Auch hier ist die Justiz die Instanz, die sich jedem menschlichen Urteil entzieht. Daraus folgt, dass sie die Regeln aufstellt, das Gesetz eben, nach dem sich alle Menschen zu richten haben. Betrachtet man diese Autorität unter dem Aspekt der Verantwortung, so liegt diese für den Einzelnen darin, das Gesetz zu beachten zu müssen; alle weitere Rechenschaft wird von der Justiz aufgesogen wie von einem Schwamm, und es gibt keine Schuld für das, was das Gericht tut, denn die Justiz fordert ja nur das unantastbare Gesetz ein. Verantwortung ist ein Begriff, der auf das Gesetz nicht anwendbar ist, und da dieses Gesetz seine ganze Welt determiniert, wird Verantwortung im allgemeinen völlig bedeutungslos, da alles, was man tut, nur am Gesetz gemessen wird, und die Maßnahmen, die seine Befolgung erzwingen, liegen jenseits der Bewertung durch menschliche Urteilskraft. Diese Trostlosigkeit von K.'s Realität findet sich für den Mann vom Land in der Unantastbarkeit des Türhüters als Diener des Gesetzes wieder. Selbst wenn der Wächter den Mann getäuscht hätte, so der Gefängniskaplan, wäre er doch trotzdem in seiner Funktion als Bediensteter des Gesetzes immun gegen Verurteilung durch einen Menschen. Verantwortung wird hier zum leeren Begriff, da er in diesem System keine Anwendung findet.

Opfer und Täter

Betrachtet man den enormen Zeitraum, den der Mann vom Lande vor dem Tor des Gesetzes verbringt, bevor er stirbt, so stellt man fest, dass er ihn mit den immerwährenden Versuchen, Zutritt zu erlangen, gefüllt hat. Er "ermüdet den Türhüter durch seine Bitten". (S. 230) und lässt nichts unversucht, den Wächter umzustimmen. Von den Gegenständen, die er auf seine lange Reise zum Gesetz mitgenommen hat, scheut er nicht davor zurück, auch die kostbarsten als Bestechungsgeschenk zu verwenden. Der Türhüter nimmt diese zwar an, macht aber keine Anstalten, seine Haltung zu ändern. Er stellt stattdessen "öfters kleine Verhöre mit ihm an, [...] es sind aber teilnahmslose Fragen wie sie große Herren stellen". (S. 230) Diese Annahme von Bestechungsgeschenken ohne Gegenleistung und Befragungen werden vom Geistlichen als vorbildliche Pflichterfüllung (S. 232) und sogar als über die Pflicht hinausgehende Höflichkeit (S. 233) ausgelegt, obwohl der Mann mit Sicherheit darunter zu leiden hat. Der Kaplan begründet diese »Freundlichkeit« mit der Geduld des Türhüters, die ständigen Bitten des Mannes zu ertragen. Diese - aus dem Blickwinkel des Betroffenen - zynische Ansicht taucht auch indirekt in K.'s Prozess auf: indem der Geistliche K. diese Interpretation erzählt, impliziert er einen Vorwurf an ihn, es seinen »Betreuern« unnötig schwer zu machen durch sein uneinsichtiges Handeln. Dieser Vorwurf erhebt sich bereits im ersten Kapitel aus dem Mund seiner Wächter gegen ihn: "Du lieber Himmel! [...] dass Sie sich nicht in Ihre Lage fügen können und dass sie es darauf angelegt zu haben scheinen, uns [...] nutzlos zu reizen." und auf seine Legitimationspapiere: "Was kümmern uns denn die? [...] Sie führen sich ärger auf als ein Kind." (S. 12). Hier wird ihm plötzlich aus einer Situation, als deren Opfer er sich sieht, ein Strick gedreht, er sei in Wirklichkeit der Täter. Gerade diese Perspektive ist im Zusammenhang mit der Schuldfrage K.'s von Bedeutung und erklärt zum Teil seine letztendliche Einsicht in seine Hinrichtung. Genau das gleiche deutet der Gefängniskaplan damit an, dass er den Türhüter als das Opfer der Situation darstellt, der, weil er ja das Tor bewachen muss, den ermüdenden Fragen des Mannes vom Lande hilflos ausgesetzt ist. Der Mann dagegen unterliegt keinem Zwang, sein Leben vor dem Tor des Gesetzes zu verbringen, und trägt damit die Schuld für die Belastung, die der Türhüter durch ihn ertragen muss. Diese Umkehrung der Verhältnisse illustriert das Paradox, dem Josef K. sowohl als Täter als auch als Opfer ausgeliefert ist. Dies findet sich in der Erzählung und Interpretation des Geistlichen wieder, um K.'s rein passive Opferhaltung zu erschüttern. In der Tat könnte man gerade mit diesem Beispiel argumentieren, die Erzählung des Gefängniskaplans weise nur deshalb all die Parallelen zu K.'s Prozess auf, um ihm eine ganz bestimmte Perspektive seiner eigenen Haltung gegenüber dem Gericht aufzupfropfen. Die Parabel könnte somit als bewusst wertendes und lenkendes Werkzeug in den Händen des Gerichtsbediensteten erscheinen, das nur den Zweck hat, K.'s ablehnende Haltung weichzuklopfen und ihn für seine Hinrichtung gefügig zu machen. Wie auch immer man ihren Zweck bewertet, die Widerspiegelung von K.'s Prozess und die Vorwegnahme seines Endes sind zweifellos die Essenz der Türhüter-Erzählung.

Tod und Erlösung

Im Moment des Todes scheint es zumindest in der heute gängigen Ausgabe des Romans zu einem leichten Gegensatz zwischen Legende und Haupterzählung zu kommen: Der Mann vom Lande erblickt - obwohl er sich nicht sicher ist, ob seine alten Augen ihn nicht betrügen - im Augenblick seines Todes "einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht". (S. 230) Mit seinen letzten Atemzügen ist ihm doch noch wie die Gnade eines letzten Wunsches ein schwacher Abglanz des zu Lebzeiten nie erreichten Zieles beschert, so dass er wenigstens in Frieden gehen kann. Ähnlich, jedoch nur entfernt ist dagegen Josef K.'s Tod: Weiter vom Frieden mit seiner Umwelt entfernt als je zuvor, wird er gewaltsam von zwei Bediensteten des Gerichtes "wie ein Hund" getötet: "Es war, als sollte die Scham ihn überleben" (S. 245). Der »Abglanz«, der ihm beschert ist, findet sich dort "wie ein Licht aufzuckt" in einem Fenster, das geöffnet wird und daraus ein Mensch die Arme ausstreckt (S. 244). Genau wie in der Erzählung ist die Deutung dieses Lichtzeichens ungewiss, wird aber offenbar positiv dargestellt: "Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch?" (S. 244). Und so scheidet K. als Versager aus der Welt, der bis zuletzt nicht verstanden hat, worum es eigentlich gegangen war. Noch kurz zuvor fragt er sich: "Soll ich nun zeigen, dass nicht einmal ein einjähriger Proceß mich belehren konnte?" (S. 241) und kann sich keine Antwort darauf geben. Dieses Ende verdeutlicht aufs schärfste Kafkas fatale Welt, in der es keine Erlösung für den Protagonisten gibt, nicht einmal in seinem Tod. Er erteilt eine radikale Absage sogar an religiöse Hoffnungen, nach dem weltlichen Leben könnte man seinen Frieden machen. Kafkas Charakter ist auf Ewigkeit dazu verdammt, nicht mit seiner Schande zu leben, sondern mit seiner Schande tot zu sein: die endgültige und ultimative Zerstörung des Individuums.

Doch diese Version ist nicht die einzige, die man betrachten kann. In Fragmenten, die nicht den Anhängen des Roman angegliedert wurden, wird ein Traum K.'s geschildert, der seinen eigenen Tod zum Thema hat (Kaiser 1958). In diesem Traum erlebt K. den Tod als Erlösung, indem er sich freiwillig in sein Grab begibt und über reinen Anblick seines eigenen Grabsteins in Entzücken gerät. Ein weiteres Traumfragment schildert, wie er durch die Flure des Gerichtsgebäudes hastet, und über die Leichtigkeit seiner Bewegung feststellt, dass er nicht mehr im irdischen Diesseits sein kann. Dann bricht das Licht, das bisher in seinem Rücken lag, von vorne über ihn herein, und er genießt seine Unbeschwertheit. Ein Haufen seiner alten Kleider wird zum Symbol für die abgestreifte irdische Hülle. Es ist überraschend, die Konsequenzen dieser Träume für das Ende zu betrachten: Plötzlich fügt sich das in der Türhütergeschichte prophezeite Ende haargenau in die tatsächlichen Geschehnisse. Der Tod wird zur Erlösung, und der Übergang ins Jenseits bringt die ersehnte Erleuchtung über die quälenden Fragen des Lebens. In dieser Deutung vereinigen sich Roman und Legende nahtlos zu einer Einheit. Warum hat Kafka es vorgezogen, durch diese Streichungen das Ende zu solcher Trostlosigkeit zu verdammen? Von den vielen möglichen Antworten scheint mir hier eine besonders hervorzustechen: Nur dieses Ende hat die Trübseligkeit der Welt K.'s logisch und schlüssig abgerundet. Das »Entkommen« aus den Klauen des Prozesses war vermutlich nie vorgesehen, und so musste K. bei seinem traurigen Ende auch noch auf die angenehmen Träume eines sinnerfüllten Todes verzichten. Auch könnte man - da man sich ja immer vor Augen halten muss, dass K. die Türhüter-Erzählung aus dem Mund des Gefängniskaplans gehört hat - das leicht friedvolle Ende der Legende als bewusste Irreführung K.'s verstehen. So würde seine eigene Interpretation der "Täuschung" des Mannes vom Lande eine bittere Wahrheit erfahren - nämlich in der zynischen Weise, wie K. selbst getäuscht wurde.

Fazit

Man kann also aufgrund der starken Parallelen der Parabel und des Romans unter besonderer Berücksichtigung des Entstehungsprozesses von einer Kondensierung der Romanidee in der "Türhüter-Legende" sprechen. Diese komprimierte Wiedergabe von Teilen des Gesamtwerks wird hier dazu instrumentalisiert, neben der normalen inhaltlichen Ebene des Romans eine zweite, darüberliegende zu errichten. Diese Meta-Ebene wird nun durch Figuren der Romanhandlung von außen betrachtet, genauso wie der Leser den Roman selbst liest und interpretiert. Der dadurch erzielte Effekt verdeutlicht dem Rezipienten seine eigenen Denkprozesse und ermöglicht es ihm, sich von der inhaltlichen Ebene zu lösen und seine Interpretationen zu reflektieren. Indem sich der Leser mit Josef K. identifiziert, erkennt er in dessen Befangenheit und mitunter Voreiligkeit seine eigene Vorgehensweise und erhält einen externen Anstoß, diese Interpretationen zu hinterfragen. Hier zeigt sich sehr deutlich die Absicht Franz Kafkas, keine simple Patentlösung als Interpretation zuzulassen, sondern stattdessen auf die verwirrende Vielzahl möglicher Perspektiven hinzuweisen. Die Erzählung "Vor dem Gesetz" und das sie umschließende Domkapitel sind daher ein Appell an der Leser, die Ambivalenz des Werkes nicht durch einfache Formeln zu ersetzen.

Ganz gleichgültig aber, welcher der dort vorgeschlagenen Interpretation man mehr zu folgen geneigt ist, so bleibt doch eine - und wenn es die einzige sein sollte - Wahrheit bestehen: "Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber" (S. 234).

 

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Literaturverzeichnis 

 

Born, Jürgen (1985), "Kafkas Roman »Der Prozess«: Das Janusgesicht einer Dichtung", in: "Was bleibt von Franz Kafka? Schriftenreihe der Franz-Kafka-Gesellschaft 1", Hrsg. Wendelin Schmidt-Dengler, Braumüller Verlag, Wien, S. 63-78

Kafka, Franz (1935), "Der Proceß", Lizenzausgabe des Fischer Taschenbuch Verlages 1993, Frankfurt / Main

Kaiser, Gerhard (1958), "Franz Kafkas »Prozess«: Der Versuch einer Interpretation", in: "Euphorion" 52, S. 23-49

Kindler' s Literaturlexikon, S. 7869-7871

Politzer, Heinz (1962), "Franz Kafka: Parable and Paradox", Cornell University Press, Ithaca & London, S. 163.

Pongs, Hermann (1960), "Franz Kafka, Dichter des Labyrinths", Wolfgang Rothe Verlag, Heidelberg, S. ...

Sokel, Walter H., (1985), "Kafkas »Der Prozess«: Ironie, Deutungszwang, Scham und Spiel", in: "Was bleibt von Franz Kafka? Schriftenreihe der Franz-Kafka-Gesellschaft 1", Hrsg. Wendelin Schmidt-Dengler, Braumüller Verlag, Wien, S. 43-62

 

 

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