Tolkiens Status als
Gründervater der Fantasy-Literatur scheint heute unbestritten. So wird sein Lord
of the Rings (LotR)1
ehrfurchtsvoll als "the most
influential fantasy novel ever written" und er selbst als "the
20th century's single most important author of fantasy"2
bezeichnet. Auch wenn man geneigt sein
mag, dem beizupflichten, so ist es natürlich die Aufgabe dieser Arbeit, den
Wahrheitsgehalt solcher Aussagen zu überprüfen.
Betrachtet man nämlich
Tolkiens eigene Sichtweise, so ergibt sich zunächst ein recht unscheinbares
Bild: Indem er selbst gerne als "Historiker"3
und "Übersetzer" auftrat, vermied er es, sich als Schöpfer Mittelerdes
zu exponieren. Gleich die ersten Sätze des Prologs zum LotR4 suggerieren volle Authentizität des
von ihm veröffentlichten Texts: So
beruft er sich auf das (fiktionale) "Red Book of Westmarch",
das von Bilbo und Frodo zusammengestellt wurde5,
als Quelle. Er geht mit "Übersetzungen" elbischer Namen ins Englische6
sogar so weit, dass man sich unweigerlich an Defoes
"Robinson Crusoe" oder Swifts
"Gulliver's Travels" erinnert fühlt 7,
fast so als hätte der Autor Angst, seine Leser könnten sich von seinem Werk
abwenden, wenn sie herausfänden, dass es vollständig fiktional ist. Natürlich
muss man bei solchen Vergleichen bedenken, dass Tolkien diese
"Historizität" als bewusstes Stilmittel wählte, weil er wusste, seine
potentielle Leserschaft würde die Fiktionalität sehr wohl erkennen können.
Dennoch zeigt Wilsons verheerende Kritik des LotR8, dass das Konzept einer vollständig fantastischen
fiktionalen Welt zur Zeit Tolkiens aus den Kinderschuhen der Märchen und nursery
stories noch nicht herausgewachsen war. Man darf also durchaus erwarten,
dass Tolkien hier wichtige Pionierarbeit geleistet hat.
Betrachtet man also die Einflüsse Tolkiens einmal an der Oberfläche, so
stellt man fest, dass eine erstaunliche Bandbreite von Produktionen sich an ihn
anlehnt: Dabei ist der offizielle Tribut mit Tolkien-orientierten Kurzgeschichten
heutiger Fantasy-Autoren "After the King"9
nur die Spitze des Eisberges: Abgesehen von Tolkien-Enzyklopädien10
und einem "Tolkien Quiz Book"11
umfasst die Palette der offiziellen Produkte:
"...dramatizations,
musicals, puppet performances, [...] board games, puzzles, computer
games, chess sets, playing cards, tarot decks, T-shirts, costumes, masks,
buttons, belt buckles, dolls, puppets, metal miniature figures, coloring books,
music, linens, pewter figurines, porcelain figurines, collector plates, clocks,
daggers & swords, action figures, bulletin boards, mirrors, posters,
calendars, note-cards, stationery, collectible card games, role-playing games,
decals and bumper stickers."12
Anhand dieser Liste fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, wie
unüberschaubar erst die Fülle der inoffiziellen Produkte sein muss. Hier
reichen die Einflüsse bis hin zu Heavy Metal-Rockmusik13.
Besonders im Bereich von Computerspielen wird deutlich werden, dass viele
direkte Bezüge zu Tolkien hergestellt werden, ohne dafür eine offizielle Lizenz
einzuholen, weil Mittelerde in weiten Teilen Allgemeingut geworden ist.
Ich werde im Folgenden versuchen, einige wichtige dieser Referenzen
aufzuzeigen. Um die Authentizität einer Umsetzung beurteilen zu können, muss
natürlich eine differenzierte Analyse des Originals vorausgehen, und so belegen
sorgfältige Interpretationen von Tolkiens Welt einen großen Teil der folgenden
Seiten. Insgesamt bildet diese Arbeit damit eine detaillierte
Betrachtung der Tolkien-Rezeption auf dem wenig untersuchten populären Sektor.
1Zur Zitierweise der
Hauptwerke:
Ich habe aus Gründen der Nachvollziehbarkeit entschieden, die Verweise auf
Tolkiens Primärtexte durch den (teils verkürzten) Titel, und nicht durch
"Autor, Jahreszahl" vorzunehmen. So steht Tales
für Unfinished Tales und LotR I-III für Lord Of The Rings (dt. Übers.:
HdR), Part One through Three.
Des Weiteren beziehe ich mich auf das Silmarillion und Tolkiens Letters.
Die genauen Angaben dieser Texte sind im Literaturverzeichnis angeführt.
2Clute (1997), pp.950-951.
3vgl. Nitzsche (1979),
p.128.
4LotR I, p.17.
5LotR I, p.34.
6vgl. z.B. LotR III,
p.544: "Yrch, pl. of Elvish orch = orc" oder ebd,
pp. 522: "On Translation".
7Zur Verweisstruktur: Im Laufe dieser Arbeit
werden externe
Referenzen (Nachweise) mit "vergleiche / vgl."
gekennzeichnet, interne
Verweise (Bezüge innerhalb dieser Arbeit) werden mit "siehe / s.a."
eingeleitet. Als Hilfe gilt dabei: wo nur eine Seitenangabe steht, liegt eine
interne Referenz vor.
8Wilson, Edmund: "Oo,
Those Awful Orcs!" in: "The Bit between my Teeth",
London 1966, pp.326.
9Greenberg, Martin H. (Hrsg.):
"After the King: Stories in Honor of J.R.R. Tolkien",
o.O.: Mass Market Paperback 1994.
10z.B. Day (1993), Duriez
(1992) und Tyler (1979).
11Murray, Andrew: "The
Tolkien Quiz Book", London: HarperCollins 1996.
12Tolkien Enterprises Homepage unter http://www.tolkien-ent.com (9.6.1999).
13z.B. Blind Guardian,
"The Bard's Song - The Hobbit"; auf: "Somewhere Far
Beyond", Virgin Records 1992.