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Fantasy

Versucht man, dieses Genre zu definieren, so muss man zunächst eine deutliche Unterscheidung zwischen deutscher und anglo-amerikanischer Literaturtheorie vornehmen: schon die Tatsache, dass der Begriff "fantasy" im Allgemeinen überhaupt nicht übersetzt wird, lässt vermuten, dass hier im Deutschen keine eigenständige Definition vorliegt. Und in der Tat tut man sich schwer, eine deutsche Entsprechung des Begriffs zu finden: So definiert z.B. von Wilpert den Terminus "fantastische Literatur" als Überbegriff für "Schauerroman, Gothic Novel, Gespenstergeschichte und ğFantasy bis zur Science Fiction"1, womit also "fantasy" selbst ohne Erläuterung aus dem Englischen übernommen wird. Unter der Definition von "Fantasy-Literatur" weist er dann auf "imaginäre Welten" und "Pseudomythologien" hin, die jedoch "leicht zur Triviallit. und Comics absink[en]"2. Alleine schon die damit verbundene leicht negative Wertung ist typisch für den deutschen Umgang mit diesem Genre: So ist mir im Laufe meines eigenen Germanistik-Studiums nichts begegnet, was auch nur im Entfernten den Begriff "Fantasie" überhaupt als konstituierendes Merkmal getragen hätte (wobei Kafkas "Metamorphose" nur eines der deutschsprachigen Beispiele ist, die durchaus "fantastische" Züge tragen), wogegen Tolkien in der Anglistik als fester Bestandteil des Kanons in jeder Literaturübersicht des 20. Jahrhunderts auftaucht. Ganz offensichtlich tut man sich in Deutschland besonders schwer, sich ernsthaft mit "unrealistischer" Literatur zu befassen3, und wenn man Becksons Verweis auf eine "radical departure from ðrealism"4 als wesentlichem Merkmal von fantasy folgt, wird verständlich, warum: Der damit schnell verbundene Vorwurf des Eskapismus scheint mir hier das ausschlaggebende Element zu sein. Die befürchtete Flucht des Lesers aus seiner sozialen Verantwortung in die fiktive Welt ist nicht kleinzukriegen, seit es ein breites Lesepublikum gibt, und je fantastischer der Inhalt eines Buches, desto größer scheint die potentielle Gefahr, die von ihm ausgeht.

Dabei ist es interessant, nachzuvollziehen, wie sich die gesamte fiktionale Literatur - gegen genau den gleichen Vorwurf - ihren Platz in den humanistischen Wissenschaften erst "erkämpfen" musste: Als Daniel Defoe 1719 seinen "Robinson Crusoe"5 veröffentlichte, musste er das Buch noch als Reisebericht ausgeben, um den Vorwurf der Fiktionalität zu umgehen. Ebenso ging es 7 Jahre später Jonathan Swift mit "Gulliver's Travels"6, und obwohl dieses Werk weit weniger realistisch anmutet als Robinson Crusoe, scheint es doch im Lesepublikum keinen Protest gegen eine solche - aus heutiger Sicht verfälschende - Deklarierung gegeben zu haben7. Als es dann mit steigendem Alphabetismus und erschwinglicheren Buchpreisen im 19. Jahrhundert zur immer stärkerer Verbreitung von Büchern kam, so waren es vor allem die Frauen des reichen Bürgertums, die die nötige Zeit, das Geld und die Bildung besaßen, um ausgiebig zu lesen. Besonders der große Erfolg der Brontë-Schwestern zeigt (obwohl sie unter männlichen Pseudonymen veröffentlichten8), dass deren weibliche Protagonisten (aus weiblicher Perspektive beschrieben) den Nerv ihrer - größtenteils weiblichen - Leser trafen. Damit wurde der Vorwurf der Realitätsflucht gegen Literatur endgültig zementiert: gerade die Tatsache, dass fiktionale Literatur zu diesem Zeitpunkt ungleich mehr Leserinnen als Leser hatte, machte es für patriarchalisches Denken einfach, Fiktionalität als Manifestation weiblicher Hysterie abzustempeln. Und obwohl fiktionale Literatur mittlerweile zum Gegenstand wissenschaftlichen Arbeitens geworden ist, schleift sie immer noch den latenten Vorwurf von Trivialität und Nutzlosigkeit mit sich herum. Dabei scheint besonders in Deutschland die Faustregel zu gelten, dass Populäres nicht seriös sein kann. Deshalb halte ich es z.B. für sehr unwahrscheinlich, dass Tolkiens Bücher ohne deren differenzierte linguistische Dimension hier die gleiche Beachtung gefunden hätte, obwohl die akribische Beschreibung (fiktionaler) elbischer Sprachen9 nicht den wichtigsten Teil der literarischen Qualität seines Werks ausmacht. Zwar beweist er große Treffsicherheit in der "richtigen" Benennung seiner Schöpfung10 und trägt damit wesentlich zur fiktionalen Glaubwürdigkeit des Werkes bei, aber die Nomenklatur bleibt doch trotzdem Oberflächenveredelung, die ohne einen massiven Unterbau, auf den sie aufgetragen werden kann, substanzlos bliebe. Selbstverständlich ist es legitim, von einer linguistischen Grundmotivation auszugehen11, aber die damit verbundene Lesart ist für keinen Leser verbindlich, und besonders die große Anhängerschaft Tolkiens dürfte hauptsächlich in seiner Kreation schwelgen, nicht in seiner Sprache. Abgesehen davon hat auch Tolkien nicht nur rein linguistisch gearbeitet, sondern auch viel gemalt und sich von seinen Aquarellen inspirieren lassen12.

Betrachtet man also dem gegenüber die deutsche Literaturlandschaft, so wird man - möglicherweise überrascht - feststellen, dass sich hier fast keine Entsprechungen zu Werken wie dem LotR finden. Die größtmögliche Annäherung ist dabei in den Büchern Michael Endes zu sehen: so lässt sich seine "Unendliche Geschichte" am ehesten als fantasy-Buch beschreiben. Und obwohl die Kriterien für eine solche Einordnung überdeutlich aus dem Werk hervorgehen (eine geschlossene Sekundärwelt mit fremden Wesen und eigener Mythologie etc.), wird das Buch in Kindlers Literaturlexikon nur lapidar als "Jugendroman" bezeichnet13 - ein Begriff, der überhaupt nichts besagt außer dass er eine Zielgruppe definiert. Ironischerweise befasst sich ausgerechnet diese Geschichte mit der Beziehung unserer Primärwelt zu fiktionalen Sekundärwelten und weist explizit auf das menschliche Bedürfnis nach Träumereien und Fantasie hin14, das (u.a.) mit fantasy-Literatur befriedigt wird. Und besonders wenn man die Literaturdidaktik an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland betrachtet, so wird immer wieder mit Recht hingewiesen, dass die Rezeption von Literatur ein lustvolles Erlebnis für die Schüler sein muss15, wenn sie irgend etwas daraus lernen sollen. Eben diese "Lust" ist aber genau das, was wiederum als Pfad zum Eskapismus angeprangert wird. Mir scheint, der Erlebniswert von Fiktionalität wird oft immer noch unterschätzt, weil er - als Hauptmerkmal von Trivialliteratur - in "seriösen" Werken offenbar einen schlechten Ruf genießt. Abgesehen davon weist Petzold mit Recht darauf hin, dass die Gefahr der Flucht in eine fiktionale Welt viel eher gegeben ist, je mehr diese Sekundärwelt der realen ähnelt16 - wovon fantasy-Literatur weit entfernt ist. Genau das Gleiche spielt sich z.B. seit Einführung des Fernsehens in der pädagogischen Diskussion ab: hier scheint die Meinung vorzuherrschen, was Kindern Spaß macht, könne nicht zu deren Bildung oder gar Sozialisation beitragen. Erst die neuere Medienpädagogik erkennt den Erlebniswert der modernen Medien überhaupt an17. Hier zeigen sich die gleichen Vorbehalte, die die Abgrenzung des literarischen Kanons zur sog. Trivialliteratur oft schwierig gestalten.

Offensichtlich scheut sich daher die deutsche Literaturwissenschaft sehr, hier eine eigenständige Definition zu erstellen, und so wird entweder der englische Begriff verwendet oder das Thema insgesamt mit Verweis auf dessen "Trivialität" gemieden. So kommt es, dass sogar in anglistischen Werken, die aber von Deutschen verfasst werden, fantasy mit children's literature zusammengefasst und in der Inhaltsangabe von Tolkiens Werk Hobbits mit Zwergen gleichgesetzt werden18. Weiterhin treten hier in der Verwendung des entlehnten Begriffes Übersetzungsprobleme auf: so entspricht nicht etwa "fantasy" dem deutschen "Fantasie" (d.h. kreatives Potential, Vorstellungskraft), sondern "imagination"19. Das englische "fantasy" dagegen beschreibt eher eine "Vorstellung" (d.h. das Ergebnis der Benutzung eines solchen Potentials). Die beiden Begriffe beziehen sich somit zwar auf den gleichen Prozess, legen aber den Schwerpunkt auf unterschiedliche Ausschnitte daraus20: Fantasie ist die Voraussetzung, fantasy dagegen das Endprodukt. Die englische Semantik des Begriffes als "Vorstellung" oder "Hirngespinst" greift dabei das zentrale Kriterium der fantasy bereits auf: die fiktive Sekundärwelt. So bezeichnet Tyler z.B. die Sekundärwelt selbst als "Fantasie", indem der den deutschen Begriff als terminus technicus für "Faerie", die Märchenwelt, benutzt21 und damit die englische Semantik in den deutschen Begriff überträgt.

Versucht man nun - ungeachtet aller Unkenrufe, der LotR sei eine literarische Anomalie22 - eine Einordnung von Tolkiens Werk in diese Begrifflichkeiten, so definiert z.B. Petzold "fantasy" als bewusste Erschaffung einer solchen vollständig autonomen Sekundärwelt mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten23. Er verweist darauf, dass eine solche Welt natürlich sehr präzise gearbeitet sein muss, um die fiktionale Illusion (Coleridges "willing suspension of disbelief"24) aufrecht zu erhalten. Dabei benutzt er - wie ich finde, sehr angemessen - den Begriff des "Kunstmärchens"25, um ein solches Werk zu charakterisieren, wobei sich dieses vom Volksmärchen in erster Linie dadurch unterscheidet, dass es keine anonyme Überlieferung ist, sondern auf einen einzelnen Autoren zurückgeht. Untersucht man nun den LotR auf inhaltliche Aspekte, so liegen in der Tat eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten mit Märchen26 vor:

·         wunderbar-übernatürlicher Inhalt: Magie findet sich zwar bei Tolkien nicht in so manifesten Formen, wie wir sie aus Märchen kennen, aber sie ist doch eindeutig vorhanden: als deutlichstes Beispiel kann hier die unglaubliche Macht des Einen Ringes gelten, die zwar nicht direkt in Erscheinung tritt, aber doch an ihren korrumpierenden Auswirkungen auf Frodo und besonders Gollum offensichtlich wird. Abgesehen davon bedient Tolkien aber auch das klassische Bild von Märchen-typischer Magie, als er beschreibt, wie Sam befürchtet, Gandalf könnte ihn in "etwas Unnatürliches" verwandeln27.

·         schematisch-typische Figuren (wie gut/böse, dumm/klug, tapfer/feige etc.): Wenn auch bei Tolkien etwas flexiblere und mehrschichtigere Charaktere auftreten, so sind doch erstaunlich viele von ihnen klaren Positionen zugeordnet: So ist Gandalf der unerschütterliche Verfechter des Guten, Gollum (trotz aller Bemühungen) hoffnungslos verdorben, die Hobbits trotz ihrer physischen Schwäche unbeirrbar loyal; sogar König Théoden ist, obwohl vorübergehend verblendet, ein unverändert integerer Charakter. Und Sauron ist der eindeutig prototypische dunkle Herrscher, der durch nichts und niemanden zu erweichen ist: eine durch und durch echte Märchenfigur.

·         das Fehlen einer zeitlich-realen Bindung an die Primärwelt: Tolkien selbst hat sich immer dagegen verwahrt, Mittelerde einem Ort in der realen Welt direkt zuzuordnen: Weder ältere Zeitalter oder eine entfernte Zukunft, noch andere Planeten oder Paralleluniversen würden ausreichen, um den Grad an magischer Entfremdung zu erreichen, den Märchenwelten in sich tragen: Sie existieren nur in der vollständigen Entrücktheit der Fiktionalität.

·         Fabelwesen wie Drachen und Zauberer: Das ganz selbstverständliche (oder "naive") Einführen von nicht-realen Personen und Wesen ist ein weiteres wichtiges Merkmal, was Tolkien mit Märchen gemein hat. Diese tragen vor allem dazu bei, die eigene Logik der Fiktionalität zu betonen: So werden Zeichen gesetzt, die dem Zuhörer (oder Leser) signalisieren, dass sich die Plausibilität dieser Welt seiner Beurteilung entzieht. Was im Märchen passiert, passiert aus der Logik der fiktionalen Welt, und nicht nach Maßstäben der realen.

·         die glückliche Lösung von Konflikten (wie sie dem Wunschdenken von Erzähler und Zuhörer entspricht): Dieses vielleicht wichtigste Kriterium für Märchen findet sich im LotR erstaunlich konsequent angewendet wieder. So wird nicht nur der dunkle Herrscher am Schluss besiegt, auch Saruman, Gríma und Gollum finden ihr verdientes Ende, und das wohlgemerkt jeweils aus eigener Schuld. Perfekter könnte der Erzähler sie ihre für Sünden nicht büßen lassen: die ausgleichende Gerechtigkeit, die der Märchenzuhörer sich herbeisehnt, wird von Tolkien voll und ganz bedient. Sogar gute Charaktere, die einzelne Anfälle von Versündigung zeigen, wie Boromir, Denethor und Théoden müssen ihre Schuld mit dem Tod büßen - wenn sie sich aber treu für die gute Sache opfern, wird ihnen das Privileg eines heroischen Todes zuteil. Gandalf dagegen, der nie strauchelt und sein Leben gibt, um die Gemeinschaft des Rings zu schützen, wird folgerichtig nicht nur mit Wiedergeburt für seine Treue belohnt, sondern auch noch mit seiner "Beförderung" zum Vorstand des Rates der Weisen, um den gefallenen Saruman zu ersetzen.

Außerdem ist die Erfüllung einer Mission (Quest)28 ein weiteres wichtiges Merkmal vieler (wenn auch nicht aller) Märchen - im LotR spiegelt sich diese überaus populäre Form in dem Versuch wieder, den Einen Ring zu zerstören29. Legt man diese Kriterien als konstituierende Bestandteile eines Märchens zugrunde, so reicht der Hinweis auf einen einzelnen Autoren, um mit dem Begriff "Kunstmärchen" den LotR meiner Ansicht nach angemessen einzuordnen30. Dass dies natürlich nicht die einzig gültige Einstufung ist, zeigt z.B. Brewer, der den LotR in Abgrenzung zur novel (ðrealism) mit der romance in Verbindung bringt31.

Betrachtet man nun Tolkiens andere Werke, so kann man den Hobbit hier sicherlich auch noch mit einreihen, aber spätestens im Silmarillion verschieben sich die Strukturen: So beginnt es mit der Schöpfungs­geschichte eher als Mythos, und fährt dann als historischer Bericht fort32. Es ist als weiteres Kennzeichen von fantasy zu verstehen, religiöse Bedürfnisse mit einem Kunst-Mythos zu befriedigen33; dabei wird das literarische Werk als "Sub-creation" betrachtet, in welcher der Autor eine ähnliche Position zu seinem Werk einnimmt wie ein Gott zu seiner Schöpfung34. Die späteren posthumen Veröffentlichungen wie die Tales und die History of Middle-earth gleichen dann eher Steinbrüchen, in denen sich die Brocken verlorener Geschichtsschreibung wiederfinden. Dabei ist es gerade die Intertextualität zwischen all diesen Elementen, die auf den Leser eine besondere Faszination ausübt, weil sie von ihm aktive Detektivarbeit erfordert, um einen Gesamtsinn zu konstituieren35. Lediglich die Betrachtung des Werkes eines einzelnen Autoren zeigt hier bereits auf, wie offen die Definition von fantasy-Literatur ist: So findet man alleine bei Tolkien vom Kinderbuch bis zur fiktionalen Mythologie eine ganze Palette an Sub-Genres. Daran wird deutlich, warum dieses Genre auch in Lexika immer sehr ausschweifend umschrieben wird: So beobachtet man hier Nähe zum Horror (z.B. H.P. Lovecraft36) und zur Science Fiction (z.B. A.C. Clarke37). Auch dabei zeigen sich ständige Überschneidungen: So ist Mary Shelleys "Frankenstein"38 zwar in erster Linie eine Gothic Horror Novel, aber doch trotzdem mit einem starken technologischen Schwerpunkt (science fiction); Ähnliches gilt für Stevensons "Dr Jekyll and Mr Hyde"39 - hier kommen sogar noch Aspekte der detective story hinzu. Sogar Oscar Wildes "The Picture of Dorian Gray" und Lewis Carrolls "Alice in Wonderland" werden mitunter der fantasy zugerechnet40, und der LotR ist von Naomi Mitchison einmal gar als "super science fiction" bezeichnet worden41. Ironischerweise werden sogar die o.g. "Gulliver's Travels" und "Robinson Crusoe" heute oft dem fantasy-Sektor zugeordnet, und in Deutschland kennt man sie fast nur noch als Kinderbücher - folglich weiß hierzulande auch fast niemand mehr vom durchaus ernsthaften Hintergrund der beiden Werke (als Satire respektive moralisches Werk) zu berichten. An diesem Beispiel wird die enge Assoziation von fantasy mit "Jugendliteratur" und damit dem "trivialen" Bereich deutlich, und damit schließt sich der Kreis der Ausgrenzung durch Kanonbildung: was einmal als "trivial" gebrandmarkt wurde, hat es schwer, wieder für voll genommen zu werden.

Bei aller Schwammigkeit des Begriffs bleibt aber festzuhalten, dass Werke der fantasy auf jeden Fall an der Realität orientiert bleiben: Das heißt, sie sind trotz ihrer Abkehr vom "Realen" an eine innere Logik gebunden, die die Charaktere psychologisch nachvollziehbar machen muss42. Die damit entworfene Sekundärwelt wird erst damit glaubwürdig und fiktional lebensfähig. Als Folgerung aus dem oben Genannten definiere ich fantasy somit folgendermaßen:

fantasy-Literatur (im weiteren Sinne) dient als Oberbegriff für

1.     Kunstmärchen (fantasy im engeren Sinne),

2.     Horror / Gothic Novel und

3.     Science Fiction.

Die oft vorgenommene Zuordnung nach Altersgruppen ("Jugendbuch", "children's literature" etc.) ist schon seit der Begründung der modernen fantasy durch Tolkien abzulehnen, weil sie jegliche inhaltliche Aussage erfolgreich vermeidet. Außerdem möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, wie Generationen durchaus ihren Kinderträumen treu bleiben können: So ist anlässlich des diesjährigen Kinostarts der "Episode I" des Science Fiction-Klassikers Star Wars deutlich zu verfolgen, wie die Kinder und Jugendlichen, die vor 20 Jahren mit dem fantasy-Märchen der magischen "force" aufgewachsen sind, heute mit der gleichen Begeisterung wie damals in die Kinos strömen. Wollte man die gesamte Star Wars-Saga damit als "Jugendliteratur" bezeichnen, wäre das bei einem Blick auf das mittlerweile erwachsene Publikum wohl denkbar unangemessen. Zwar besitzen Begrifflichkeiten wie "Kinderliteratur" durchaus ihre Berechtigung, man sollte sie aber nicht verwenden, um über die eigene Ratlosigkeit hinweg zu täuschen.

Denn natürlich ist gesamte fantasy-Genre sehr offen: So wird es z.B. überlagert von humoristischen Elementen verschiedenster Art: Mit "Bored of the Rings"43 ist 1969 eine Parodie des LotR erschienen, die aufgrund ihrer einfach gestrickten Bezugnahme auf das Original auch unter Tolkien­liebhabern nicht unumstritten ist44. Aber es gibt natürlich auch humoristisch geprägte fantasy ohne konkrete Bezugsbücher: So bedient sich Terry Pratchett mit seinen "Discworld"-Romanen45 zwar reichlich aus dem Fundus von Sagen und Mythen (und natürlich auch neuerer fantasy-Schemata), bezieht sich aber nicht immer auf speziell herausgepickte "Vorbilder"; und solche direkten Referenzen beziehen sich dann meist nicht auf neuere fantasy, sondern auf die gleichen Überlieferungen, die Tolkien inspirierten, bis hin zu Shakespeare. Und auch wenn hier vor allem der Spaß am Lesen und Schmunzeln im Vordergrund steht, erfüllt Pratchett mit seiner Scheibenwelt doch mehrere wichtige Kriterien "ernster" fantasy: Er hat eine in sich geschlossene Sekundärwelt mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und Figuren geschaffen, die mittlerweile ebenso kartografiert ist wie Tolkiens Mittelerde.

Aber auch in prototypischer fantasy trifft man gelegentlich auf Werke, die in einigen konstituierenden Punkten stark von der o.g. Definition abweichen: So zeigen z.B. Stephen Donaldsons "Chronicles of Thomas Covenant"46 deutliche Abweichungen vom Schema des Kunstmärchens: Er erschafft zwar auch eine autonome Sekundärwelt, die mit fremden Wesen und einer eigenen Magie ausgestattet ist, aber die Figuren sind im Gegensatz zu Märchen zu wirklich runden Charakteren ausgearbeitet. Die stereotype Zuordnung von einfachen Wesenszügen, die sich auch bei Tolkien noch wiederfindet, wird hier fast vollständig überwunden. Donaldson zeichnet überaus detaillierte Psychogramme seiner Charaktere und macht sie mit allen Motivationen und Ängsten transparent. Damit ergibt sich zwingend auch die Ablehnung eines einfachen Gut/Böse-Verständnisses: Obwohl es am Anfang noch scheint, als ob der dunkle Herrscher "Lord Foul" eine Bedrohung von außen sei, wird bald klar, dass er lediglich als Projektion des negativen Potentials aller denkenden Wesen existiert. So endet Donaldson sogar damit, dass der Protagonist sich zu seiner eigenen dunklen Seite bekennt und sie annimmt: für Märchen (und auch für Tolkien) vollständig undenkbar, weil dem Leser damit das happy end verweigert wird, dass er von einem Märchen erwartet - zwar rettet Covenant die Sekundärwelt und kehrt in seine eigene zurück, da er dort aber wieder unheilbar krank ist (so wie er sie verlassen hatte), hinterlässt das Ende einen sehr unangenehmen Nachgeschmack. Zwar zeigt sich hier die Märchen-typische "ausgleichende Gerechtigkeit", sie kostet aber einen hohen Preis. Somit weist "Thomas Covenant" außer seinen fantasy-Elementen auch Aspekte einer psychological novel47, ja sogar des Entwicklungsromans48 auf. Dabei ist es aber trotzdem interessant, wie nur das bloße Etikett von fantasy immer noch ernsthafte Beschäftigung mit einem Buch erschwert: So hat Wagner Donaldson völlig unbegreiflicherweise als Tolkiens "successor, though of inferior talent"49 bezeichnet: Leider schimmert hier wieder die Befangenheit durch, die typisch für den deutschen Umgang mit der großen Unbekannten "fantasy" scheint: Donaldsons Werk ist genauso geschlossen wie Tolkiens, und nur die (scheinbare) Abwesenheit einer eigenen Mythologie macht das Buch nicht schlechter: dabei verzichtet Donaldson bewusst auf Gottheiten, setzt aber an deren Stelle ein sehr überzeugendes Magiesystem, das die Kräfte der Natur selbst zur Mythologie ausbaut, ohne dabei Personen als Vehikel für einzelne Kräfte zu benötigen: seine Figuren stehen in direktem Kontakt mit den positiven Kräften des Landes, das sie bevölkern. Weiterhin stellt Donaldson Tolkiens doch recht simplem Gut/Böse-Verständnis eine höchste problematisierte Auseinandersetzung mit dieser Frage entgegen: moralisch gesehen ist Tolkiens schwarz-weiß-Ethik dem eindeutig unterlegen. Besonders hier habe ich den Eindruck, dass Donaldsons Werk in seiner Herkunft als "Trivialliteratur" nicht ernsthaft genug gelesen wird, denn eine "literarische Unterlegenheit" kann man bestenfalls an oberflächlichen Beobachtungen festmachen: nur aus der Tatsache, dass hier einige Motive auftauchen, die wir aus Tolkiens Werk kennen (ein Ring, der wilde Magie beinhaltet, sowie ein dunkler Herrscher) lässt sich nicht ableiten, dass hier lediglich kopiert würde - abgesehen davon sind diese Motive kein wirkliches Privileg Tolkiens50; sie finden sich in unzähligen anderen Märchen, Erzählungen und Sagen wieder. Wer genauer hinsieht, stellt sogar fest, dass Donaldsons Sekundärwelt wesentlich widerspruchsfreier ist, weil sie gezielter und in kürzerer Zeit entstand, und damit deutlich mehr Kohärenz zeigt. So fehlen hier die Risse in der Erzählung, die bei Tolkien mit fiktionaler Historizität ausgespachtelt werden müssen. Mir drängt sich hier der Eindruck auf, als hätte Tolkiens Werk in der Literaturwissenschaft nur durch seine linguistischen Neigungen und seine Anlehnung an Stoffe aus dem Kanon Anerkennung finden können. Meiner Einschätzung nach hätte das Fehlen dieser Elemente die Verkaufszahlen des LotR nicht annähernd so stark gesenkt wie die dem Werk gewidmete literarische Aufmerksamkeit. Dabei ist Mittelerde nur historisch und linguistisch betrachtet ein komplexer Ort - moralisch gesehen bleibt Tolkiens Werk vergleichsweise simpel - ein Märchen eben.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der fantasy-Sektor eine schwer überschaubare Fülle an Werken verschiedenster Herkunft und Qualität beinhaltet, die offenbar viele Literatur­wissenschaftler abschreckt, sich hier ernsthaft einzuarbeiten.

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1Wilpert (1989), p.679.

2Wilpert (1989), p.289.

3vgl. hierzu auch Petzolds Aussage, "...daß in der deutschen Anglistik das Phänomen Tolkien bisher [1980] so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen wurde". Petzold (1980), p.10.

4Beckson (1995), p.87.

5vgl. Wagner (1988), p.60: "The life and strange surprising adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner: [...] Written by Himself"; Defoe (1993).

6Wagner (1988), p.62; Swift (1994).

7Tolkien folgt genau der gleichen Strategie wie Swift und Defoe: Obwohl er es nicht mehr nötig hat, dem Leser ernsthaft zu suggerieren, seine Schriften seien historische Tatsachenberichte, wählt er trotzdem dieses Stilmittel, um seine Sekundärwelt realistischer erscheinen zu lassen: Vgl. Tolkiens Prolog in LotR I, p.17.

8Wagner (1988), p.102.

9vgl. hierzu z.B. den Anhang des LotR in LotR III, p.523: "On Translation"

und die Anhänge in Silmarillion, p.427: "Elements in Quenya and Sindarin names".

10Auden, Wystan Hugh: "The Quest Hero", in: Isaacs (1968), p.51.

11vgl. Shippey, T.A.: "Creation from Philology in the [LotR]", in: Salu (1979), pp.286-316: "[LotR]...primarily linguistic in inspiration..."

12Clute (1997), p.951.

13Walter (1996), Band 5, p.200.

14Ende (1979).

15Dahrendorf, Malte: "Leseerziehung oder literarästhetische Bildung?", in: Wilkending (1972), pp.150.

16Petzold (1980), p.113.

17vgl. z.B. Moser (1999), pp.170.

18Wagner (1988), pp.166-167.

19vgl. hierzu Messinger (1992): Fantasie wird an erster Stelle mit "imagination" und erst an vierter Stelle mit "fantasy" [im Sinne von Tagträumerei] übersetzt.

20vgl. auch Petzold (1996), p.7.

21Tyler (1979), p.203.

22Reilly, Robert J.: "Tolkien and the Fairy Story", in: Isaacs (1968), p.128: "...it [the LotR] was anomalous...".

23Petzold (1980), pp.101.

24zitiert nach Gardner (1991), p.22.

vgl. auch: Beckson (1995), p.88.

25Petzold (1980), p.103.

26Arbeitsdefinition von "Märchen" im Folgenden nach Schweikle (1984), p. 275.

27LotR I, p.94: [Sam zu Frodo]: "Don't let him turn me into anything unnatural!"

28Auden, Wystan Hugh: "The Quest Hero", in: Isaacs (1968), pp.42.

29zu Quests in Tolkiens Werk vgl. auch Duriez (1992), p.213.

30vgl. hierzu auch: Fuller, Edmund: "The Lord of the Hobbits: J.R.R. Tolkien", in: Isaacs (1968), p.17: "...he [Tolkien] has created a self-contained geography, [...] mythology, [...] a history in great depth [...] several languages [...] extensive flora and fauna in addition to those already known to us."

31Brewer, Derek S.: "The [LotR] as Romance", in: Salu (1979), pp.249-264.

32Petzold (1980), p.110.

33Petzold (1980), p.113.

34Petzold (1980), p.104.

Helbling (1995), p.57.

35vgl. hierzu: Helbling (1995).

36Wilpert (1989), p.289; Lovecraft (1982).

37Wagner (1988), p.167; Clarke (1988).

38Wagner (1988), p.167; Shelley (1994).

39Stevenson (1994).

40Beckson (1995) p.87; Wilde (1995), Carroll (1993).

41Letters, #145, p.181.

42Beckson (1995) p.88.

43Beard & Kenney (1993).

44vgl. Stellungnahmen unter: http://www.amazon.com/exec/obidos/ts/book-customer-reviews/0451452615/aabrakadaabsmagi/002-8119493-3816814 (Juli 1999).

45z.B. Pratchett, Terry: "Lords and Ladies: A Novel of Discworld" [o.O.] Harper Mass Market Paperback 1996.

46Donaldson (1977) und (1980-83).

47Beckson (1995), pp.220-221.

48Wilpert (1989), p.238.

49Wagner (1988), p.167.

50So ist der Ring allgemein ein "traditional symbol of infinity or eternity...". Biedermann (1996), p.283.

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