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Magie & Macht

Magie in unserem Verständnis von manifester Zauberei ist von Tolkien selbst recht spartanisch gebraucht1 worden: Da wäre z.B. das Nauglamír zu nennen, das lediglich hübsch und unnatürlich leicht ist, aber sonst keine magischen Kräfte hat2 oder Frodos Mithril-Hemd, das schützt wie ein Kettenpanzer, aber trotzdem fast kein Gewicht besitzt3. Tolkiens Magie besteht hauptsächlich aus perfekt gearbeiteten Artefakten (elvish craft) sowie bloßen Worten, so z.B. in Gandalfs Konfrontationen mit dem Balrog ("You cannot pass"4), dem Nazgûl ("You cannot enter here"5), und schließlich seinem Versuch, das Tor von Moria zu öffnen6: Ein schlichtes Wort (es muss natürlich das richtige sein) vermag hier mehr auszurichten als alle Zauberkraft, die Gandalf beherrscht. Auch Sam nutzt diese Magie im Konflikt mit Shelob: die elbischen Worte "Gilthoniel A Elbereth" erwecken die volle Macht seiner Phiole, mit deren Licht er die grauenhafte Spinne in die Flucht schlägt7. Diese Kraft wird auch daran offensichtlich, dass alle magischen Waffen in Mittelerde - nach dem Beispiel Excaliburs - eigene Namen haben8. Tolkien benutzt hier ein sehr archaisches Konzept von Magie, das die Macht der Worte als pure Autorität versteht. Noch heute finden sich die linguistischen Überreste dieser Vorstellung von Magie in Begriffen wie casting a spell, the "magic" word (i.e. "please"), spellbound, Zauberspruch, einen Zauber sprechen, etc. wieder. Innerhalb dieses Konzepts besitzt schon der bloße Name jedes Gegenstandes seine eigene Macht, und das Aussprechen dieses Namens allein ist bereits in der Lage, diese Kraft zu entfesseln. So verwundert es nicht, dass Frodo von Aragorn scharf ermahnt wird, nicht von wraiths zu sprechen ("Do not speak of such things!"9), weil dieser den Einfluss der Ringwraiths fürchtet. Ebenso erntet Gimli einen strengen Blick von Gandalf, als er erfahren will, wie es dem Zauberer mit dem Balrog in Moria ergangen sei: "Name him not!"10 ist die mahnende Antwort. Ebenso wird in Gondor der Name Saurons teils mit "the Unnamed", der Name Mordors mit "Nameless Land" umgangen11. Die latente Angst, das bloße Aussprechen des Namens könnte das Unheil heraufbeschwören, ist das wohl älteste Konzept von Magie überhaupt: In Aussprüchen wie "speak of the devil..." oder "den Teufel an die Wand malen" findet sich diese Macht der Namen (bzw. Bilder) wieder: Auch heute ist in einigen Naturvölkern noch der Glaube verbreitet, eine Fotografie könne die Seele eines Menschen einfangen. Und in der Tat wird hier ein Aspekt des fotografierten Menschen "eingefangen" und festgehalten - modern formuliert könnte man sagen: Wissen ist Macht. Als populäres Beispiel wäre hier das Märchen von Rumpelstilzchen zu nennen. So zeigt Gandalfs Formulierung von den "nameless things" in den Gängen unter der Erde, dass diese besser unbenannt bleiben sollten, um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen12. Dass wir heute so weit von diesem "Aberglauben" gar nicht entfernt sind, lässt sich z.B. daran ablesen, wie empfindlich unsere Gesellschaft in Datenschutzfragen reagiert. Die Vision vom gläsernen Bürger - oder nach George Orwell vom Big Brother - beschreibt letztenendes das gleiche. So betont Tolkien z.B., dass seine Dwarves ihre eigene Sprache wie ein Geheimnis hüten und lieber fremde Sprachen erlernen, um keinen Teil ihrer kulturellen Identität preisgeben zu müssen13.

Trotzdem weist er auch selbst darauf hin, dass er zwei Phänomene unter dem Begriff "magic" zusammengefasst hat14: prototypisch für das erste ist z.B. die Kunst (craft) der Elves, perfekte Dinge scheinbar mühelos zu erschaffen; die zweite Bedeutung umfasst die Ausübung von Macht, um zu unterwerfen, wie sie Morgoth und Sauron nutzen15 - hier weist Tolkien auf Parallelen zur maschinellen Beherrschung der Welt16 hin. Die Benutzung ein- und desselben Wortes für beides ist nicht nur für den Leser problematisch: sogar innerhalb des LotR bemängelt Galadriel die doppelte Wertigkeit dieses Begriffes:

[Galadriel über ihren mirror]: "For this is what your folk would call magic, I believe; though I do not understand clearly what they mean; and they seem also to use the same word of the deceits of the Enemy."17

Auch Pippins Frage nach der Art der Mäntel, die den Hobbits von den Elben geschenkt werden, stößt auf Unverständnis:

"Are these magic cloaks?" asked Pippin, looking at them with wonder. "I do not know what you mean by that [...] They are elvish robes, if that is what you mean."18

So kann man hier von positiver und negativer Magie sprechen: Während die negative aus direkter und gewaltsamer Einflussnahme besteht, steht die positive19 im Einklang mit den Dingen, die sie berührt20. Faramir bezeichnet die elbische Magie daher auch als Elven-lore21. Und obwohl Tolkien seinen Elves nur positive Magie unterstellt, darf doch bezweifelt werden, ob der Fluss Bruinen sich bereitwillig erhob, um die Nazgûl fortzuschwemmen22, oder ob er nur Gandalfs und Elronds Anweisungen folgte. Eine klare Trennlinie ist hier somit nicht zu erkennen, und so haftet auch der positiven Magie immer (wenn auch geringfügig) die Gefahr von Missbrauch und Machtausübung an. Saruman ist ein solches Beispiel für den Abfall von der guten (bewahrenden, schaffenden) Magie zur negativen (beherrschenden, zerstörenden). Dabei gilt auch für gute Absichten: "Absolute Macht korrumpiert zwangsläufig"23. Trotzdem (oder grade deshalb) hält sich Tolkien über die - zweifellos praktizierte - Machtausübung der "guten" Herrscher extrem bedeckt, um sie eben nicht in den Vorwurf der Korruption zu stellen24. Auf der anderen Seite muss natürlich der mächtigste der Valar, Melkor ("He who arises in might")25, als Paradebeispiel genannt werden, der durch seine Macht "verdorben" wurde. Auch die Zerstörung Númenors durch die Anmaßung Ar-Pharazôns26 ist eine klare Aussage Tolkiens über die verderbliche Wirkung von zu viel Macht.

Dem gegenüber deckt sich unser heutiges (vor allem Rollenspiel-) Verständnis von Magie als Technologie, die wie ein Werkzeug auf Befehl gezielte Eingriffe vornimmt, eher mit Tolkiens negativer Magie. Trotzdem muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass die hier suggerierte Unterscheidung von Handwerk (craft der Elben) einerseits und Industrie (Saurons Waffenschmieden) andererseits gradueller Natur ist und damit eine rein subjektive Aussage darstellt. So oder so erklärt die Ablehnung übermäßig "technologischer" Kräfte auf der Seite des "Guten" den von Auden aufgeworfenen Widerspruch, warum Sauron und Saruman trotz all ihrer "heavy machinery in their fortresses" auf "untechnological warfare" beschränkt sind27: Eine wirklich skrupellose Nutzung der Effizienz solcher Technik würde das Kräftegleichgewicht empfindlich stören. Die balance of power zwischen Gut und Böse findet bei Tolkien u.a. darin ihren Ausdruck, dass auf jeden guten Krieger mehrere Orks kommen können, ohne dass das Böse dabei gewinnt. Eine riesige zahlenmäßige Überlegenheit der dunklen Armeen ist ein Standardmittel im LotR (und nicht nur dort), um die kämpferische und in jeder anderen Hinsicht "mindere Qualität" der Truppen des Bösen zu verdeutlichen - dabei werden die hoffnungslos unterlegenen, aber trotzdem siegreichen Kämpfer des "Guten" um so mehr als Heldenfiguren glorifiziert. Ließe man nun die Orks mit aller verfügbarer Technologie (z.B. Katapulte, brennende Geschosse, vergiftete Waffen, möglicherweise gar Schießpulver etc.) aufmarschieren, so wäre der Sieg gegen solch überlegene Kräfte nicht mehr glaubwürdig und würde den secondary belief deutlich beeinträchtigen. Selbst wenn Tolkien im Hobbit darauf verweist, dass es möglicherweise Orks waren, auf die unsere modernen Massen­vernichtungs­waffen zurückgehen28, so wendet er diese Aussage doch nicht innerhalb von Mittelerde an, sondern formuliert damit in erster Linie Kritik an Mitmenschen wie Oppenheimer, den er zweifellos als orkish bezeichnet hätte29.

Konsequenterweise wird also das neue Middle-earth-Spiel von Sierra mit dem expliziten Verweis auf wenig Magie im Spiel angekündigt: So ist z.B. Teleportation, wie sie in anderen fantasy-Spielen häufig zu finden ist, nicht vorgesehen, weil sie nicht in Tolkiens Konzept passen würde30. Ebenso wird in MERP eindringlich vor der korrumpierenden Wirkung von Magie gewarnt, was extrem untypisch ist für fantasy-Rollenspiele31: Üblicherweise ist der Gebrauch von Magie eine Fertigkeit, die intelligente Charaktere genauso studieren können wie andere ein Handwerk erlernen. Zauberei wird dabei zum Berufsbild: so wie ein Tischler Holz bearbeitet oder ein Kämpfer kämpft, so zaubert ein Magier eben. Die ungewöhnlich verderbende Wirkung von Tolkiens Magie geht auf ihr unüberschaubares Potential zurück: In üblichen Rollenspielsystemen sind die Gefahren und Risiken der Magie durch eingehende Erforschung hinlänglich bekannt und ermöglichen so einen kontrollierten Umgang. Tolkiens Magie dagegen - besonders die der Ringe der Macht - ist eine Gratwanderung durch völlig unbekanntes Terrain, so dass sogar Saruman trotz seiner Erfahrung und guten Intentionen der "dunklen Seite" verfällt, ohne es zu merken, bevor es zu spät ist. Gleich Goethes Zauberlehrling wird er von den Geistern, die er rief, überrumpelt. Bei Tolkien hilft keine Meisterschaft in den magischen Künsten; seine Magie ist nicht beherrschbar, sondern wird jeden, der sie maßlos benutzt, ihrerseits beherrschen. Damit stellt sie sich als biblischer Sündenfall par excellence dar: Die Früchte der Erkenntnis sind verfügbar, dürfen aber trotzdem nicht angetastet werden; nur die Willensstärke des Betroffenen kann ihn vor der Versuchung bewahren32. Besonders die neun Könige der Menschen, die Sauron so zu seinen Sklaven - und Ringgeistern - machte, verfielen dieser christlichen "Ursünde". Hier fügt sich auch die Darstellung dieser negativen Magie als Technologie ins Bild: gezielte und gewaltsame Manipulation im Sinne von maschineller Unterwerfung der Welt wird hier eindeutig angeprangert.

Um dieses Konzept mit der herkömmlichen "handwerklichen" Magie üblicher Rollenspielsysteme in Einklang zu bringen, hat MERP somit zwar detaillierte Spruchlisten erstellt, diese aber auf ein Maximum von 10 Stufen beschränkt33. Dem gegenüber stehen hohen elbischen Charakteren wie z.B. Finwë innerhalb des RoleMaster-Systems Zaubersprüche bis zur 50. Stufe [!] zu Verfügung34, den Istari (Wizards) wie Gandalf und Saruman sogar noch mehr35. Um den Missbrauch von Magie zu verhindern, droht ruchlosen Magiern in MERP ständig die Gefahr, dass sie mit ihrer rücksichtslosen Zauberei die Aufmerksamkeit Saurons erregen und im schlimmsten Falle von einer Orkhorde oder den Ringgeistern gejagt werden. Auch können sie so "corruption points" anhäufen, die ihren Grad der Verderbnis wiedergeben. Ein zu hoher Wert setzt den Charakter der ständigen Gefahr aus, Versuchungen nicht widerstehen zu können (unabhängig vom Willen des Spielers) oder den Befehlen von stärkeren Dienern des Dunklen gehorchen zu müssen; m.a.W., die Spielfigur verliert ihren "freien Willen" und entgleitet immer mehr der Kontrolle des Spielers36. In METW führt eine zu hohe Verderbnis dazu, dass die betroffene Spielfigur die Gemeinschaft verlässt, also für den Spieler als Verbündeter verloren ist37. Trotz dieser Beschränkung bleibt aber fragwürdig, ob den Spielern die Motivation für diese Restriktionen bewusst wird, denn die Sanktionierung übermäßigen Magiegebrauchs ist in MERP mit Rücksicht auf die Gewohnheiten der Spieler optional. Zu deren Entlastung muss allerdings auch angemerkt werden, dass Magier in Rollenspielen ihre Fähigkeiten zum Überleben einfach brauchen: alle Charaktere einer Abenteurergruppe müssen in etwa vergleichbare Stärken besitzen, damit ein unterprivilegierter Magier nicht laufend von den Kriegern seiner Gruppe beschützt und mitgezogen werden muss. Damit die Vielfalt an verfügbaren Rassen und Klassen (Berufen) gut ausbalanciert ist, müssen Magier einer Gruppe genauso viel nützen wie Kämpfer, Diebe oder Heiler. Hier werden also vor allem Zugeständnisse an die Spielmechanik gemacht - und trotzdem sind in den meisten Systemen magisch veranlagte Charaktere anfangs extrem verwundbar38, bis sie genug Erfahrung gesammelt haben, um mächtigere Zauber zu sprechen. Gleichwohl ist aber die ausdrückliche Einbindung eines corruption point-Systems in MERP und METW eine erstaunlich authentische Umsetzung von Tolkiens Magieverständnis. Sogar das "Ringgeister"-Brettspiel39 verweist auf den korrumpierenden Einfluss von Macht und Magie.

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1Petzold (1980), p.105.

2Silmarillion, p.129.

3LotR I, p.413: "...light and yet harder than tempered steel..."

4LotR I, p.429.

5LotR III, p.120.

6LotR I, p.401.

7LotR II, p.425.

8z.B. Gandalfs Schwert Glamdring, Frodos Dolch Sting, Aragorns Schwert Narsil, sogar die Ringe haben Namen, so z.B. Narya (den Círdan und später Gandalf trug), Nenya (den Galadriel trug) und Elronds Vilya.

9LotR I, p.248.

10LotR II, p.128.

11Tyler (1979), p.409.

12dieses Konzept "verbaler" Magie hat z.B. auch Donaldson aufgegriffen: Dabei entfesselt die bloße Aussprache seines Namens einen Dämon von unbezwingbarer Macht. Vgl. "The One Tree" (1982), pp. 324.

13Silmarillion, p.108.

14Letters, #131, p.146.

15vgl. Duriez (1992), p.206: [unter Possession]: "The wrong use of power is often expressed in Tolkien in magic, the mechanical and technological."

16Letters, #66, p.77: "How I wish the 'infernal [sic] combustion' engine had never been invented."

17LotR I, p.469.

18LotR I, p.481.

19vgl. hierzu auch Petty (1979), p.31: "...magic that flows naturally from the heart [...] and not from a magician's box of tricks."

20Bezeichnenderweise ist z.B. dieses Konzept von negativer (Vergewaltigung der Natur) und positiver Magie (Nutzung im Einklang) von Stephen Donaldson mit seinem Konzept von Earth-power und -lore umgesetzt worden, und ich wage zu sagen: wesentlich besser als bei Tolkien.

21LotR II, p.359.

22LotR I, p.286.

23Petzold (1980), p.76.

24Petzold (1980), pp.81.

25Silmarillion p.409.

26Silmarillion, p.335.

27Auden, Wystan Hugh: "The Quest Hero", in: Isaacs (1968), p.53.

28vgl. dazu Dixon (1992), p.33.

29Tolkien benutzte orkish mehrmals als Ausdruck für Bösartigkeit unter Menschen. Vgl. z.B. den Gebrauch von Uruks in Letters, #78, p.90, wo er 1944 sogar auf "Deutschland and Nippon" verweist.

30http://www.middle-earth.com/faq/faq.html (10. Juli 1999).

31Charlton (1995), p.11.

32vgl. hierzu, wie Gandalf, Elrond und Galadriel alle den Ring ablehnten, weil sie wussten, er würde sie beherrschen, falls sie ihn annähmen: LotR I p.91, p.350 und pp.474-475. Vgl. weiter Boromirs Versagen gegen diese Versuchung: LotR I, pp.518-519.

33Charlton (1995), p.153.

34Fenlon (1986), p.76.

35Fenlon (1993), pp.80.

36Charlton (1995), p.75.

37Charlton (1996), p.25.

38z.B. in "Diablo" [Computerspiel für Windows 95], Blizzard Entertainment 1996.

39Hartwig, Jo: "Ringgeister" (Brettspiel zum LotR, 5.Aufl.), Troisdorf: Queen-Carroms 1997.

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