Gut & Böse
In der Schaffung einer grundlegenden Opposition, aus der die Konflikte seiner Werke wachsen sollten, übernimmt Tolkien das "fundamentale christliche Paradoxon"1, dem zufolge auch das Böse aus dem Einen Gott hervorgeht, gleichwohl es von seinem Schöpfer nicht erwünscht ist. Ohne diese göttliche Persönlichkeitsspaltung aufzulösen, lässt Tolkien seinen Schöpfergott Ilúvatar klarstellen, dass nichts in seiner Welt geschehen kann, was nicht seinen Absichten dient. Obwohl er mit diesen Worten den rebellischen Ainu Melkor zurechtweist2, muss doch zwangsläufig daraus abgeleitet werden, dass die eben damit gescholtene Unruhestiftung Melkors Teil von Ilúvatars Plan sein muss. Besonders die Art und Weise der folgenden Auseinandersetzungen zwischen Melkor (später Morgoth) und den Valar (und den freien Völkern Mittelerdes) lässt es aber schwerfallen, darin den Plan des Schöpfers zu erkennen; es sei denn, Kampf und Krieg würden als schöpferische Größen angesehen. Und obwohl sich diese Frage natürlich nicht lösen lässt (sonst wäre es kein Paradoxon mehr), ist es interessant zu bemerken, dass sie sogar in MERP aufgeworfen wird. So betont Fenlon ausdrücklich:
"Whether Eru [Ilúvatar] ever conceived of Evil or not is beyond knowledge."3
Damit muss der Schöpfergott selbst aus der Betrachtung von Gut und Böse ausgeklammert werden, weil davon ausgegangen werden muss, dass beides Aspekte seines Wesens sind. Und in der Tat wird diese Doppeldeutigkeit des Einen Gottes bei Tolkien genauso verdrängt wie in seiner Vorlage, dem Christentum. Dabei ist die "Ursünde" hier der Wunsch, über das hinaus zu wachsen, was Gott dem Einzelnen zugeteilt hat - was letztenendes in Stolz4, Überheblichkeit und Anmaßung endet5. Mit dieser Entscheidung für einen eigenen Weg (wie Melkor ihn beschritt) erfolgt zwingendermaßen ein Konflikt mit denen, die das gegebene System unterstützen. Die daraus entstehende Abgrenzung führt vor allem dazu, dass der Abtrünnige das Verständnis für seine Gegenposition verliert. So bemerkt Auden korrekt, dass Saurons wichtigste Schwäche die Unfähigkeit ist, sich in seine Gegner hineinzuversetzen6: dieser Mangel an Empathie führte dazu, dass er den Plan seiner Feinde, den Ring zu vernichten, nicht erraten konnte. Während die "Guten" die Versuchung der Korruption kennen und sich vorstellen können, hat das Böse diese Entwicklung bereits durchschritten und entsagt bewusst seiner Vergangenheit - und verliert damit eine wichtige Einsicht in das Wesen des Guten. So gesehen kann man sowohl Gut als auch Böse durchaus als Aspekte des Einen Schöpfers bezeichnen, wobei das Böse einen kleineren Anteil einnimmt als das Gute, aus dem es hervorging7.
Somit vollzieht sich die Unterscheidung in Gut und Böse entlang der Wesen, die Arda bevölkern, Valar eingeschlossen. Trotz einiger Graustufen zwischen den Extremen8 (vgl. Sauron als "übereiliger Reformer" im 2. Zeitalter9) nimmt Tolkien dabei eine klare Wertung über "richtig" und "falsch" vor: sogar Tiere werden diesen beiden Seiten zugeordnet. so sagt z.B. Aragorn zu den Hobbits:
"Not all birds are to be trusted, and there are other spies more evil than they are."10
So werden z.B. die wargs (größere Wölfe, die z.T. den orcs als Reittiere dienen), aber auch normale Wölfe als bösartig gefürchtet. Dass Raubtiere nicht grundsätzlich als bösartig (evil) gelten müssen, belegen zahlreiche nordamerikanische indianische Traditionen11. Im Übrigen ordnet Tolkien selbst ja auch die Adler den Kräften des Guten zu, obwohl Biologen hier sicherlich mit Recht keine unterschiedliche Wertung vornehmen würden. Zum Teil geht Tolkiens Differenzierung hier sicherlich auf die subjektive Erfahrung von Menschen (oder im Falle von Mittelerde: Humanoiden12) zurück, dass für sie nur von Wölfen eine potentielle Gefahr ausgeht, weil sie nicht zur Beute von Raubvögeln gehören. Trotzdem besetzt Tolkien andere Bodenraubtiere wieder positiv: so ist Beorn (der im Hobbit auf Gandalfs und Bilbos Seite kämpft) in der Lage, nach Art eines Berserkers13 im Kampf die Gestalt eines Bären anzunehmen. Hier ist sicherlich von Bedeutung, dass Wölfe als Rudeltiere größere Angst auslösen können als ein einzelner Bär oder Adler: die Kräfte des Bösen treten bei Tolkien (fast) immer in Rudeln auf, weil ein einzelner Ork oder Wolf viel zu feige wäre, um alleine anzugreifen. Nur die obersten aller Dämonen wie Nazgûl oder Balrogs besitzen die Stärke, alleine unterwegs zu sein - und selbst dann haben sie große Probleme mit Tageslicht oder fließenden Gewässern14. So ist die Massenanonymität und die damit assoziierte Feigheit der Mächte des Bösen eines der Charakteristika, die Tolkien benutzt, um "gute" von "bösartigen" Tieren zu unterscheiden: So haben auch Krähen15 und sogar Mücken und Pferdebremsen16 sowie die Riesenspinnen im Mirkwood, die alle in Schwärmen auftreten, keinen guten Ruf in Mittelerde. Aber auch Tiere des Verborgenen, so wie (blutsaugende) Fledermäuse und Kraken17, werden als bösartig dargestellt und sogar auf die Zucht Morgoths zurückgeführt18.
Dabei sind diese Zuordnungen sehr absolute Aussagen: diese Tiere werden "böse" geboren und haben keine Wahl, ihr Verhalten zu ändern. So sieht es bei den Völkern Mittelerdes etwas, wenn auch nicht viel anders aus: Orks und Trolle besitzen zwar Sprache und Intelligenz (wenn auch nicht übermäßig viel), aber es fällt ihnen doch schwer, aus ihrer Funktion als bloße Handlanger des Bösen hervorzutreten und einen eigenen Willen zu demonstrieren. Bezeichnenderweise tun sie dies nämlich fast immer nur dann, wenn unter ihnen Streit (z.B. über eine Beute) ausbricht. In diesem Sinne wird ihnen die gleiche absolute Wertung zuteil wie "bösen" Tieren: es ist der Weg, der für sie vorgesehen ist, weil sie für ihn gezüchtet worden sind19, und sie haben wenig bis keine Chancen, daraus auszubrechen.
Betrachten wir also die freien Völker Mittelerdes20: Sie sind die Einzigen, denen die Entscheidung zwischen Gut und Böse überhaupt offensteht; denn so wie die Mächte der Dunkelheit immer böse bleiben werden, sind die Valar als Gestalter Ardas daran gebunden, ihre Schöpfung zu erhalten. Besonders Menschen sind dagegen bei Tolkien anfällig für die Versuchung von Macht und Einfluss. So wird am Ende des zweiten Zeitalters ein ganzer Kontinent im großen Krieg vom Meer verschlungen, weil die Menschen dieser Insel im Wahn ihres Königs Ar-Pharazôn von Allmachtsfantasien getrieben gegen die Valar höchstpersönlich in den Krieg gezogen sind21. Interessant an der Geschichte solcher "Überläufer" ist bei Tolkien, dass sie mit ihrem Bekenntnis zum Bösen für immer rettungslos verloren sind: so wird dir Flotte Ar-Pharazôns (bis auf wenige Getreue) restlos vom Boden verschluckt. Rehabilitierung findet in solchen Fällen nie statt. Sogar Sauron, dem von den Valar im 2. Zeitalter noch die Chance zur Besserung eingeräumt wird, muss nach der Ethik des Autors zwangsläufig wieder dem Bösen verfallen. So kann der korrupte König Théoden von Gandalf nur deshalb bekehrt werden, weil er lediglich dem Bösen Einfluss seines Beraters Gríma Wormtongue unterlegen war22 - er selbst war nicht wirklich böse geworden, er hatte sich nur verführen lassen. Gríma dagegen muss alleine für diese Tat büßen und stirbt später im Shire ein unrühmliches Ende als Handlanger des korrumpierten Zauberers Saruman23. Selbst Boromir, der in einem Anfall von Machtgier (ausgelöst durch die böse Magie des Einen Rings) Frodo bedrängt, ist nach der Moral des Werkes damit verloren: Aller (durchaus glaubwürdigen) Reue zu Trotz ist er vom Autor dazu verdammt, im Kampf gegen eine Meute Orks zu sterben24. Dabei erlangt er Absolution, indem er versucht, seine Gefährten durch seinen eigenen Tod zu retten. Seine Seele wird dadurch geläutert, aber sein Leben ist nichtsdestotrotz verwirkt.
So definiert Tolkien in dieser und ähnlichen Szenen ein wichtiges konstituierendes Merkmal "guter" Figuren: ihre Fähigkeit, sich - bis zur Selbstaufopferung - in christlicher Demut zu üben. Auch andere christliche Werte wie Gnade kennzeichnen Charaktere, die dem Bösen niemals verfallen werden. So mahnt Gandalf Frodo zur Barmherzigkeit, als sie über Bilbos Treffen mit Gollum reden:
"What a pity that Bilbo did not stab that vile creature, while he had the chance!"
"Pity? It was Pity that stayed his hand. Pity, and Mercy: not to strike without need" [...]
"I can't understand you [...] he is as bad as an Orc, and just an enemy. He deserves death."
"Deserves it! I daresay he does. Many that live deserve death. And some that die deserve life. Can you give it to them? Then do not be too eager to deal out death in judgement."25
Besonders die Großschreibung der Schlüsselbegriffe Pity und Mercy macht hier überdeutlich, dass Tolkien sich dieser Termini mit großer Bewusstheit bedient. Und so wird die göttliche Vorhersehung am Mount Doom am Ende auch nur deshalb vollendet, weil sich die Figuren des "Guten" an Gottes Spielregeln gehalten und Gollum nicht aus Vergeltung getötet haben, wie es die "bösen" Figuren zweifellos getan hätten. So ist es letztenendes vor allem ein Sieg der christlichen Nächstenliebe26, die den dunklen Herrscher bezwingt, und nicht ein Triumph der militärischen Macht der "guten" Seite. Insgesamt wird Tolkiens Ethik hier sehr deutlich: Wer einmal der Versuchung des Bösen verfällt, kann sich erstens nie wieder davon lossagen und wird zweitens früher oder später daran verderben.
Weiterhin haben durch den gesamten LotR viele gute Charaktere einen bösen Antagonisten: so verweist Gasque auf Tom Bombadil und den Barrow-wight, Sam und Ted Sandyman, Gandalf und Saruman27. Ebenso kann man Galadriel und Shelob28, Aragorn und den Lord der Nazgûl sowie Frodo und Gollum gegeneinander kontrastieren. Verschiede Vergleichskriterien führen hier aber natürlich auch zu unterschiedlichen Ergebnissen: So stellt Keenan Tom und Gollum sowie Goldberry und Shelob gegenüber29. In jedem Falle aber lassen sich aber eine ganze Reihe solcher Oppositionen aufstellen, ohne den Text dabei zu überdehnen.
Die Inflexibilität dieses Systems wird weiter untermauert, wenn man sich einige Namensgebungen ansieht: So ist Gríma nicht nur durch seinen Beinamen Wormtongue (der ihm von Gandalf gegeben wird) als Lügner gebrandmarkt, sondern schon sein wirklicher Name "gríma" lässt sich auf das altenglische Wort für "spectre" oder "mask" zurückführen30. Gríma ist damit vom Autor von Anfang an dazu verdammt, den Pfad des Lügens und des Opportunismus nie verlassen zu können. Die sich scheinbar anbahnende Läuterung Grímas am Ende, Frodos Asylangebot anzunehmen (und sich damit in Demut einem ehemaligen Feind zu ergeben), muss folgerichtig durch Saruman sabotiert werden, indem er Gríma als Mörder des Bürgermeisters von Hobbiton bloßstellt - und damit Wormtongues letzte Rebellion und seinen eigenen Tod provoziert31. Diese Stelle hat auch überhaupt nichts mit Grímas möglicher Abkehr vom Bösen zu tun: Sie dient ausschließlich der Demonstration von Frodos moralischer Reifung - der Weisheit und seinem ethischen Wachstum, die er aus den Erfahrungen seiner Reise gezogen hat. Diese Passage steht in direkter Opposition zu Frodos anfänglicher Haltung gegenüber Gollum (s.o.). Gríma hat bei Tolkien somit zu keinem Zeitpunkt eine Chance, sich zu bessern: Diese Bestimmung wird aus seinem Namen sehr deutlich. Insgesamt sehen wir hier also ein sehr strenges - und sehr christliches - Verständnis von Gut und Böse32.
Diese binäre Trennung33 wurde sowohl in MERP34 als auch in METW35 anfangs aufgenommen, im Verlauf weiterer Editionen begann allerdings die "böse" Seite an Reiz zu gewinnen: Dies ist erstens für die Erweiterung des Produktes notwendig, um Eintönigkeit zu vermeiden36, und zweitens bietet es eine Möglichkeit für die Spieler, wirklich gegnerische Positionen einzunehmen (Gut gegen Böse). Dabei werden in METW z.B. die Wizards als Identifikationsfigur durch Nazgûl oder sogar Sauron persönlich37 ersetzt. Für die "Lidless Eye"-Erweiterung von METW wurde zum Beispiel folgendermaßen geworben: "Schon mal daran gedacht, ganz Mittelerde zu unterwerfen? Der Schatten wächst!"38
Dieses Phänomen (das Tolkien sicherlich sehr fremd gewesen wäre) findet sich aber nicht nur in Mittelerde-Spielen: So basierte das Star Wars Sammelkartenspiel39 von Anfang an darauf, dass die Spieler mit einem "hellen" und einem "dunklen" Deck gegeneinander antreten müssen. Im Bereich von Computerspielen kann dabei auf TIE Fighter40 verwiesen werden, das Spieler erstmals auf die Seite des - mutmaßlich bösen - Imperiums stellte. Die Einführung von X-Wing vs. TIE Fighter41 ermöglichte Spielern im Netzwerkspiel gegen andere menschliche Gegner, ihre Seite selbst zu wählen. Sogar im Solo-Spiel Jedi Knight42 hat der Spieler die Möglichkeit, sich für eine Karriere des Guten oder des Bösen zu entscheiden und hat damit spezifische Fähigkeiten zur Verfügung, die die Gegenseite nicht besitzt.
Hier wird in erster Linie der grundlegenden Eigenart der meisten Spielsysteme Rechnung getragen, dass (fast) immer gegeneinander gespielt wird: dabei bietet es sich an, den beiden Spielseiten eine "natürliche" Opposition zu unterstellen. So wird im Schach zwar nicht zwischen gut und böse unterschieden, wohl aber zwischen hell und dunkel43. Dabei scheint es mir keine Überanstrengung der Farbsymbolik, schwarz und weiß durchaus als Metaphern für Gut und Böse anzusehen - man könnte den beiden Spielern ebenso blau, rot oder grün zuordnen, wenn man eine solche Assoziation vermeiden wollte. Abgesehen von dieser Opposition, in der sich Spieler meistens gegenüberstehen, ist es eine ungemein faszinierende Erfahrung für Spieler, die Seiten zu wechseln: Waren Tolkien-Fans es zunächst gewohnt, in der stereotypen Gut-Böse-Konstellation die Kräfte des Bösen als minderwertig zu betrachten (ganz so wie Frodo auf Gollum herabsieht), haben sie jetzt die Möglichkeit, die Nöte und Sorgen der Orks selbst nachzuvollziehen - und dabei zu lernen, warum diese aus ihrer eigenen Perspektive - nicht völlig unberechtigt - die freien Völker für die "Bösen" halten, an denen sie sich rächen wollen. Dabei ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieser Blickpunktwechsel keineswegs zynisch gemeint ist: Er ist einfach förderlich, um im Spiel eine echte Opposition aufzubauen. So ist z.B. an der Basisversion von METW zu beobachten, wie die Konkurrenz der Spieler um die Gunst der freien Völker Mittelerdes wenig konstruktive Züge trägt: Indem die Spielmechanik die Kräfte des Bösen nicht den Spielern unterstellen will und darauf verweist, dass diese eigentlich von Sauron kontrolliert werden44, entsteht ein eindeutiger Bruch in der Spiellogik, wenn die - mutmaßlich "guten" - Zauberer (welche die Spieler verkörpern) sich gegenseitig behindern, indem sie ihren Konkurrenten Orkhorden in den Weg werfen, die eigentlich nicht unter ihren Einfluss fallen. Hier wird schnell deutlich, dass es im Sinne eines Kampfes von Gut gegen Böse wenig Sinn ergibt, das Böse von den Spielern fernzuhalten: der einzige Gewinner einer solchen Logik ist als lachender Dritter der Dunkle Herrscher selbst, der sich darüber freuen darf, wie die Kräfte des "Guten" sich gegenseitig behindern, anstatt geschlossen gegen ihn vorzugehen. Es lässt sich also durchaus rechtfertigen, Spielern die "böse" Seite zugänglich zu machen (auch wenn Tolkien mit einem solchen Konzept sicherlich seine Probleme gehabt hätte): nur so kommt es zu einer authentischen Konfrontation im Spiel. Damit wird verständlich, warum die nachfolgenden Editionen von METW sich mit Dark Minons, Dragons, dem Lidless Eye und sogar mit Balrogs befassten45. Dabei wurden von Turnier-Spielern sogar Strategien entwickelt, die im Spiel gar nicht vorgesehen waren - ganz so wie Sauron oder Morgoth die Regeln nach ihrem Willen gebeugt hätten: "Sure, not moving your companies totally goes against the theme of Middle-earth, but hey - whoever said the bad guys played fair?"46
Interessanterweise befasste sich Tolkien später erneut mit der Abgrenzung von Gut und Böse: In dem unvollendeten Fragment "The New Shadow"47 über die Zeit nach dem Ringkrieg (4. Zeitalter) beschreibt er in Gondor eine Gesellschaft, deren Wohlstand offenbar durch die "rasche Sättigung des Menschen mit dem Guten" [...] "zu einem gewissen Werteverfall bei der Jugend"48 geführt hat. Unter diesem Einfluss entwickelt sich eine Art Satanistenkult, welcher dem ehemaligen Feind - Sauron - huldigt. In einem Zwiegespräch lässt Tolkien einen Veteranen des Ringkrieges mit einem jüngeren Menschen über die Abgrenzung von Gut und Böse diskutieren. Dabei geht es dem ersteren vor allem um die Verurteilung von Schaden, der ohne Not oder Nutzen verursacht wird (in diesem Beispiel der Diebstahl unreifer Äpfel als pure Provokation), während der letztere auf die Subjektivität von Nutzen und Schaden verweist (wie z.B. Bäume das Schlagen von Feuerholz beurteilen würden). Obwohl - oder möglicherweise weil - sich hier eine Aufweichung von Tolkiens bisher recht rigidem Rechtsverständnis abzeichnet, hat der Autor die Geschichte aber bald abgebrochen, "weil sie des Schreibens nicht wert sei"49. Daran ist bemerkenswert, wie die Aufgabe der binären Opposition von Gut und Böse offensichtlich für Tolkien nicht besonders verlockend erschien, und in der Tat leuchtet es ein, dass ein solcher Schritt die gesamte ethische und moralische Bewertung seines Werkes in Frage gestellt hätte. So wird der Hass, den "gute" Charaktere z.B. gegen die Orks hegen, im LotR vollständig durch die von Grund auf bösartige und lebensfeindliche Haltung der letzteren gerechtfertigt. So sagt z.B. Gimli zu Legolas:
"Yet my axe is restless in my hand. Give me a row of orc-necks and room to swing and all weariness will fall from me."50
Dieses vergleichsweise blutrünstige Szenario wird aber vom Erzähler, der ansonsten mit negativen Wertungen über Gewalt nicht spart, in keiner Weise gerügt - eben deshalb, weil Gimli als Streiter für die gute Sache sein begründeter Zorn nicht als bösartig nachgetragen wird. Die Diskussion, die sich jedoch in "The New Shadow" anbahnt, droht die Grundlage für diese Rechtfertigungsmuster zu untergraben, weil sie jedem Individuum sowohl für dessen Handeln als auch für seine Wertung der Handlungen anderer eine eigene, subjektive Perspektive zugesteht. Eine konsequente Anwendung dieser Vorstellung müsste den Orks auch eine eigene Sichtweise zugestehen, und möglicherweise verfielen diese dann auf genau die gleichen Rechtfertigungen, denn sie werden von den freien Völkern Mittelerdes allgemein gehasst und gemieden - und bekanntermaßen reicht Hass schon aus, um Gegenhass zu erzeugen. Eine einmal in Gang gebrachte Blutrache ist vor allem deshalb so schwer zu durchbrechen, weil irgendwann keine eindeutige Schuld am Fortbestand der Fehde mehr zugewiesen werden kann: Jede Aktion wird vom Agierenden immer nur als Reaktion verstanden. Ein solches Wertungssystem hätte aber die ganze Ethik des Gesamtwerkes gekippt, und folglich hatte Tolkien guten Grund, diesen Gedankengang nicht weiter zu verfolgen. Insofern werden hier natürlich die gegen ihn erhobenen Vorwürfe verständlich, er habe ein moralisches Werk verfasst, sie schießen aber doch über das Ziel hinaus, wenn sie von einer Allegorie reden51.
In diesem Zusammenhang ist es nicht ganz uninteressant, das Kinslaying der Elves in der Altvorderenzeit (1. Zeitalter) genauer zu betrachten52: Obwohl hier - zwar im Affekt, aber doch mit voller Billigung - ein Brudermord (oder genauer: Totschlag) im großen Stil stattfand, so wird doch vom Erzähler keine Verbindung zum "Bösen" gezogen, obwohl Fëanor, der die Revolte anführte, eindeutig von der Zwietracht, die Melkor verbreitet hatte, beeinflusst war. Da dieser Streit aber aus Fëanors festem Entschluss, das Böse eigenhändig zu bekämpfen, entstand, wird es zwar als eine verwerfliche, aber nicht als eine böse Tat gewertet. Damit wird sehr deutlich, dass die Definition von "böse" hier nicht so sehr nach konstruktiv oder destruktiv bewertet wird; in erster Linie ist wichtig, ob die Tat den Plänen Morgoths oder Saurons dienlich ist: das Böse wird also an bestimmten Figuren festgemacht.
Bezeichnenderweise hat also Tolkien selbst eine Relativierung von Gut und Böse weitgehend abgelehnt, während die Autoren der Mittelerde-Spiele sich dazu entschlossen, dem Spieler diese Entscheidung selbst zu überlassen und die auch Möglichkeit zu bieten, als Ork oder Nazgûl durch Tolkiens Welt zu streifen. Diese Abweichung vom Originalwerk wird insbesondere dadurch deutlich, dass die "The New Shadow"-Fragmente (1997) lange nach dem Erscheinen des Mittelerde-Rollenspiels (1984) und -Kartenspiels (1995) veröffentlicht wurden, also auf deren Struktur keinen Einfluss haben konnten.
Natürlich ist dieser Bruch nicht aus der Luft gegriffen: In erster Linie ist dies eine jüngere Tendenz, die erst durch den individualistischen Zeitgeist des späten 20. Jahrhunderts ermöglicht wird, der das Denken heute stärker bestimmt als noch in Tolkiens Zeit. Alleine schon die vergleichsweise junge Möglichkeit, dank moderner Technik als Privatperson fremde Länder bereisen zu können, bewirkt eine erhebliche Relativierung der Einschätzung der Fremde. Tolkien dagegen beschreibt noch eine Welt, in der - mangels schneller Transportmittel - die Fremde (oder auch nur Nachrichten aus der Fremde) aufgrund ihrer Unbekanntheit immer potentielle Gefahren birgt. Weiterhin ist unser modernes Verständnis von Gut und Böse beispielhaft an Liberalisierungen des Strafvollzuges in unserem Jahrhundert abzulesen: so sind Rehabilitierung und Resozialisierung vergleichsweise junge Konzepte im Vergleich zu Bestrafung und Abschreckung (die dagegen so alt sind wie die menschliche Gesellschaft selbst). Zwar ist Vergebung als erste Tugend des Christentums nichts Neues, aber der Versuch ihrer Anwendung auf die gesellschaftliche Praxis der Gerichtsbarkeit ist vergleichsweise neu. Ebenso trägt der Verlust von klassischen Feindbildern nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes zur Neubewertung von Gut und Böse in der westlichen Welt bei. Diese Tendenzen bewirken eine erhebliche Komplizierung unseres heutigen Verständnisses von Gut und Böse - eine klare Trennung wird heute wesentlich eher als Stammtischweisheit belächelt als noch vor hundert Jahren. Was heute eine unzulässige (weil verzerrende) Vereinfachung erscheint, war aber aus Tolkiens Sicht noch nachvollziehbar, insbesondere unter seinem direkten Eindruck der beiden Weltkriege dieses Jahrhunderts53.
So wird aus heutiger Sicht deutlich, wie eine konsequente Anwendung des Tolkien'schen Wertesystems die Spielumsetzungen leicht altbacken hätte erscheinen lassen: Im Gegenteil hilft uns heute die realistischere Darstellung der "bösen" Völker (Orks, Trolle etc.) als eigenständige Populationen, Mittelerde als Sekundärwelt glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Die damit einhergehende Entmystifizierung einiger wohlbehüteter Geheimnisse mag man bedauern, aber diese Modifizierung von Tolkiens Werk ist auf keinen Fall einseitig als Verschlechterung zu werten - es handelt sich vielmehr um die Verlagerung eines Schwerpunktes, die im Sinne einer spielbaren Abenteuerumgebung definitiv vorteilhaft ist.
Eine andere Konsequenz für die Authentizität der Tolkien-basierten Spiele ist damit jedoch auch der teilweise Verlust der (ihm von Kritikern unterstellten) moralischen-allegorischen Dimension54, deren Existenz Tolkien selbst immer von sich wies55. Während man sicherlich bestreiten darf, der Autor habe sich selbst als ethischer Zeigefinger verstanden, war ihm aber andererseits die Vermittlung einer klaren moralischen Wertung natürlich wichtig. Bei aller Kritik an den Spieleadaptionen darf jedoch auch nicht unerwähnt bleiben, dass die Möglichkeit für einen Spieler, einen Ork zu verkörpern, keinesfalls völlige Beliebigkeit oder reines Lustprinzip bedeutet, wie es Helms fälschlicherweise suggeriert56: in MERP ist jeder Ork genauso von seiner Umgebung abhängig wie jeder andere Charakter auch. Das heißt zwar, dass er sich von Elves fernhalten sollte, aber bei aller Streitsucht sollte er auch nicht versuchen, sich mit seinem eigenen Stamm anzulegen. Ein Mindestmaß an sozialer Kooperation ist auch hier unverzichtbar, um voranzukommen (oder überhaupt nur zu überleben) - ein Punkt, den Tolkien selbst gemieden hat, weil es mit seiner Darstellung der Orks nicht zusammenpasste.
In dieser Hinsicht beinhaltet jedes Rollenspiel schon durch seine Grundstruktur diese - zweifellos moralisch wertvolle - Dimension: Die Spieler müssen konstruktiv zusammenarbeiten, wenn sie nicht scheitern wollen. Damit verläuft die Grenze zwischen gut und potentiell böse zunächst um die Gemeinschaft herum, ganz wie um die Fellowship of the Ring, und genau wie Tolkiens Vorbilder müssen die Spieler abwägen, welchen Fremden sie vertrauen können und wem nicht57. Und genau wie Boromir die Gemeinschaft in einem Anfall von Verblendung und Gier zerbrach58, können die Spieler eines Abenteuers sich uneinig werden, so dass z.B. Kämpfe um erbeutete Schätze ausbrechen. Gerade dadurch aber, dass sich jeder Spieler dann mit seinen Mitspielern - also mit wirklichen Menschen - auseinandersetzen muss, entstehen an solchen Punkten im Spiel authentische Situationen, in denen Moral nicht reflektiert, sondern praktiziert wird: Die Spieler müssen sich (durch die von ihnen gesteuerten Charaktere katalysiert) über ihre Vorgehensweise einigen. In dieser Hinsicht ermöglicht ein Rollenspiel durch seine Interaktivität eine für Bücher völlig unerreichbare Dimension an moralischem Wert, der bei dieser Bewertung im Vergleich mit dem literarischen Vorbild nicht vergessen werden darf. Ähnlich wie bei der Verfilmung eines Buches zieht ein Wechsel des Mediums zwangsläufig auch inhaltliche Veränderungen nach sich. Und gerade unter diesem Gesichtspunkt halte ich die hier durch MERP vorgenommenen Modifikationen an Tolkiens Werk für durchaus gelungen und angemessen.
1Petzold (1980), p.77.
2Silmarillion, pp.17-18.
3Fenlon (1986), p.95.
4Spacks, Patricia: "Power and Meaning in the [LotR]", in: Isaacs (1968), p.92.
5vgl. Petzold (1980), p.75 und Silmarillion, p.16.
6"His primary weakness is a lack of imagination, for, while Good can imagine what it would be like to be Evil, Evil cannot imagine what it would be like to be Good." Auden, Wystan Hugh: "The Quest Hero", in: Isaacs (1968), p.57. Leider hat aber auch diese Feststellung keine Allgemeingültigkeit: So versagt Manwë in der Einschätzung Melkors, weil er selbst "free from evil" ist: "...it seemed to Manwë that the evil of Melkor was cured". Silmarillion, p.76.
7Kocher (1972), p.61: "Evil is diminution."
8vgl. Lewis, C.S.: "The Dethronement of Power", in: Isaacs (1968), p.12.
Vgl. auch Old Man Willow, der zwar feindselig, aber kein Diener Mordors ist: Letters, #175, p.228.
9Letters, #153, p.190.
10LotR I, p.247.
11vgl. hierzu z.B. Lurie (1994).
12Ich benutze "Humanoide" als Überbegriff für alle menschenähnlichen Rassen in Mittelerde, also für Elves, Dwarves, Hobbits und Men, aber auch orcs und Trolls gleichermaßen.
13Berserker aus der nordischen Überlieferung: vgl. Duriez (1992), p.38.
14vgl. dazu LotR I, p.286: Die Berührung mit Wasser erweist sich hier als tödlich für die sterblichen Hüllen der Ringgeister.
15die crebain in LotR I, p.372: [Aragorn]: "Regiments of black crows [...] I think they are spying out the land."
16Die Fliegen von Mordor, die sogar das Zeichen von Saurons lidlosem Auge tragen. Day (1993), p.95.
17vgl. den (oder die) großen Kraken im Teich vor dem Moria-Tor: LotR I, p.401.
18Day (1979), p.147.
19vgl. dazu LotR III, p.227.
20Elves, Menschen, Zwerge und Hobbits.
21Silmarillion, p.335.
22LotR II, pp.145-147.
23LotR III, p.365.
24LotR II, p.12: [Boromir, sterbend]: "I am sorry. I have paid."
25LotR I, p.89.
26vgl. auch Duriez (1992), p.226: "Sacrifice".
27"This rather oversimplified relationship between good and evil seems to be without exception." Gasque, Thomas J.: "Tolkien: The Monster and the Critters", in: Isaacs (1968), p.159.
28Petty (1979), pp. 53-54.
29Keenan, Hugh T.: "The Appeal of the [LotR]: A Struggle for Life", in: Isaacs (1968), p.75. Aufgrund ihrer fast vollständig passiven Rolle ist Goldberry allerdings sicherlich die schlechtere Gegenspielerin zu Shelob. Im Gegensatz zu Galadriel erscheint sie beinahe nur als schmückendes Beiwerk. Insofern ist es nicht völlig aus der Luft gegriffen, wenn Toms Alter Ego im "Bored of the Rings" zu den Boggies (Hobbits) sagt: "I wan' yoo meet my chick." Goldberry ist lediglich Toms Gefährtin, kein eigenständiger Charakter.
30Tinkler, John: "Old English in Rohan", in: Isaacs (1968), p.166.
31LotR III, p.364-365.
32vgl. auch Dowie, William: "The Gospel of Middle-earth", in: Salu (1979), p.276.
33vgl. dazu auch: Petty (1979), pp.78.
34Charlton (1995), p.8.
35"Middle-earth: The Wizards" Rulebook, p.2.
36vgl. hierzu die Rechtfertigung des von Sierra Studios angekündigten Computerspiels "Orcs - Revenge of the Ancients", warum die Perspektive der orcs gewählt wurde: "Orcs are intriguing because they play a huge role in the events unfolding throughout the Lord of the Rings but comparatively little is known about them." http://www.sierrastudios.com/games/orcs/ (12. Juli 1999).
37METW-Karte "The Lidless Eye", Textauszug: "You are Sauron, not a Ringwraith". Zitiert nach: InQuest #27, p.43.
38Werbeanzeige in Kartefakt #13, Dez.97/Jan.98, p.111.
39[ohne Autor]: "Star Wars Customizable Card Game", [ohne Ort] Decipher Inc. 1995.
40Holland, Lawrence & Kilham, Edward u.a.: "TIE Fighter" (PC-Spiel, ohne Ort), LucasArts 1995.
41Holland, Lawrence u.a.: "X-Wing vs. TIE Fighter" (PC-Spiel, ohne Ort), LucasArts 1997.
42Chin, Justin u.a.: "Jedi Knight" (PC-Spiel, ohne Ort), LucasArts 1997.
43In diesem Zusammenhang beziehe ich mich bewusst nur auf die in der westlichen Welt übliche schwarz-weiße Variante dieses Spiels.
44Charlton (1996), p.8.
45http://www.ironcrown.com/me/cards/index.htm (27. Juni 1999).
46Jeff Hannes in einem Kommentar über ein METW Turnier-Deck in InQuest #27, 7/97, p.43.
47in Tolkien: "History of Middle-earth, Vol. XII: The Peoples of Middle-earth", zitiert nach Katzer 1999(2). Vgl. auch Duriez (1992), p.190.
48Katzer 1999(2).
49Katzer 1999(2).
50LotR II, p.168.
51"So, although the Lord of the Rings is by no means allegorical, it gains much of its force from its symbolic concentration..." Spacks, Patricia: "Power and Meaning in the [LotR]", in: Isaacs (1968), p.95.
52Silmarillion, p.102.
53vgl. Carpenter (1991), pp.88.
54vgl. Helms (1975), pp.115: "The Myth Allegorized".
55LotR I, p.11: "As for any inner meaning or 'message', it has in the intention of the author none. It is neither allegorical nor topical."
56Helms (1975), p.76: "...they [orcs] are, in Freudian terminology, id projections..."
57vgl. dazu die Zweifel der Hobbits gegenüber Strider (Aragorn) in Bree: LotR I, pp.221.
58LotR I, pp.519.