Tom Bombadil
Tom Bombadil1 ist eine Anomalie: Es erscheint unmöglich, ihn in Tolkiens Völker oder Fauna einzuordnen. Nur anhand des LotR erweist er sich in der Tat als "unclassifiable other than as some primal nature spirit"2, "a kind of archetypal 'vegetation god'"3 oder "apparently some kind of nature god"4. Will man also keine Ausnahme machen (und ihn auch nicht als Inkarnation Ilúvatars einordnen5), ist man gezwungen, ihn - unter Zuhilfenahme des Silmarillion - als einen der Maiar einzustufen6. Toms Resistenz gegen den Einen Ring weist auf große Kräfte hin: So kann er ihn aufsetzen, ohne dabei zu unsichtbar zu werden, ebenso wie er Frodo noch sieht, wenn dieser den Ring trägt7. Seine eigene Aussage schließt ihn deutlich aus den irdischen Wesen Mittelerdes aus:
"Eldest, that's what I am. Mark my words, my friends: Tom was here before the river and the trees; Tom remembers the first raindrop and the first acorn. He made paths before the Big People, and saw the little People arriving. [...] When the Elves passed westward, Tom was here already, before the seas were bent."8
Hargrove geht sogar so weit, Tom mit dem Vala Aulë gleichzusetzen9; und obwohl er dafür detaillierte Belege anführen kann, sehe ich keine Notwendigkeit, eine so drastische (und problematische) Interpretation vorzunehmen. Denn unter den Ainur sind nur die Valar alle mit Namen bekannt - die Maiar dagegen nicht10. Betrachtet man dann die Maiar, die sich unerkannt z.B. als Istari oder große Adler11 in Mittelerde aufhalten, drängt sich die Frage auf, wie viele weitere sich in anderen Formen - inkognito - unter die Völker Endors gemischt haben.
So ist MERP dieser (am weitesten anerkannten) Interpretation gefolgt und hat Tom und Goldberry folgerichtig als Maiar aufgelistet12. Die Probleme, die sich aus dieser Sicht ergeben, sind dabei weit geringer als die Schlüssigkeit des Konzepts: Als "eldest" kann Tom nur einer der Ainur sein, denn vor der Modellierung Mittelerdes waren diese und Ilúvatar die einzigen Wesen in Tolkiens Universum - insofern ist Shippeys These vom "one-of-a-kind"-Wesen selbstverständlich abzulehnen13. Auch Toms Aussage, er habe "Pfade geschaffen", entspricht genau der Tätigkeit der Ainur, die Arda für die Ankunft der Kinder Ilúvatars herrichteten. Was hier am problematischsten erscheint, ist Toms eingeschränkte Bewegungsfreiheit (seine Bindung an den Alten Wald) und seine offenkundige Sorglosigkeit gegenüber der Bedrohung durch Sauron, was ihn geradezu verantwortungslos erscheinen lässt. An diesem Punkt wird besonders ein Vergleich mit Aulë oder Ilúvatar aber noch problematischer: Wie könnten diese eine solche laissez-faire-Haltung gegenüber ihrer Schöpfung14 zeigen? Weit weniger Schwierigkeiten bringt dagegen eine Sicht von Tom als Maia: Am Beispiel Sarumans kann man gut belegen, wie anfällig die geringeren Ainur15 für die Verlockungen und Beschwerlichkeiten einer körperlichen Existenz in Mittelerde sind. Sogar Radagast wird der Vorwurf gemacht, in seinem Auftrag versagt zu haben: Während er sich zwar intensiv und sorgend um die Tiere kümmert, hat er dabei doch seine eigentliche Aufgabe, die freien Völker im Kampf gegen Sauron zu unterstützen, aus den Augen verloren16. So wird in den Tales darauf hingewiesen, welche Schwierigkeiten für die Maiar das Annehmen einer körperlichen Hülle mit sich bringt:
"[the Istari were] ...clad in bodies as of Men, real and not feigned, but subject to the fears and pains and weariness of earth, able to hunger and thirst and be slain..."17
MERP hat diese Schwächung der Macht der Ainur in Verbindung mit einem sterblichen Körper konsequent aufgegriffen18:
"Tom's spirit is tied to its fana [i.e. physical body] and, like the Balrogs and fallen Wizards, he has lost the ability to shun his form. [...] his powers are but a faint suggestion of his original incarnation."19
Diese Interpretation erklärt die Einschränkung seines Wirkungsbereiches auf den Alten Wald. Er hat sich in seiner körperlichen Form so stark an diese Umgebung gebunden, dass er sie nicht mehr verlassen kann - oder will: Natürlich kann man auch darauf verweisen, dass Tom gar kein Verlangen habe, außerhalb seines Waldes zu wirken und aus freien Stücken darauf verzichte. So oder so kann man ihn - genau wie Radagast - dann aber als "Maia 'gone native'"20 bezeichnen. Damit fiele auch ein neues Licht auf seine unbekümmerte Einstellung gegenüber dem Unheil Saurons: durch seine jahrtausendelange Fürsorge für den Wald hat er den Blick für die Welt außerhalb seines "Reiches" vollständig verloren.
Bei all diesen Betrachtungen darf man natürlich Toms Alter als fiktionale Figur nicht vergessen: Er existierte schon lange vor dem Hobbit und ist später in den LotR integriert worden. Dabei macht sein Ursprung als Puppe seines Sohnes Michael21 deutlich, warum er im LotR so fehl am Platz wirkt: Tom Bombadil ist als lustiger Geselle für Kindergedichte entstanden und passt damit wesentlich besser in den Erzählstil des Hobbit. Dennoch hatte Tolkien das Bedürfnis, ihn zu einem Abenteuer entlang des Weges für die Hobbits zu machen, um einige Aspekte einzuflechten, die nur Tom und Goldberry so verkörpern22 - z.B. ihr Aufgehen in der Natur, die sie pflegen. Trotzdem entsteht dabei aber ein Bruch im Lesefluss, der den secondary belief ernsthaft stört: Toms Status als Anomalie und seine unvorbereitete Einfügung erzeugen bei vielen Lesern den Eindruck einer "technical failure"23, die den Erzählstil relativ abrupt auf die Ebene des Hobbit und wieder zurück verschiebt. So rettet Tolkien sich - mehr schlecht als recht - mit dem Verweis auf Toms mysteriöse Natur, indem er sagt:
"And even in a mythical Age there must be some enigmas, as there always are. Tom Bombadil is one (intentionally)."24
So oder so hätte Tolkien eine Einstufung Toms als Maia sicherlich nicht selbst propagiert, ihr aber vermutlich auch nicht widersprochen - denn schließlich erfüllt Tom eine Schutzengel-Funktion, die Gandalfs Rolle in einigen Aspekten sehr ähnelt. Man muss dabei bedenken, dass das Silmarillion erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde - er selbst war also noch nicht in der Pflicht, diesen Teil seiner Fiktion mit dem LotR zu harmonisieren. In Anbetracht der Tatsache, dass Tom überhaupt so gut mit den Maiar des Silmarillion zu vereinbaren ist, wäre Tolkien wahrscheinlich heilfroh gewesen, dass er sich nicht in wesentlich größere Widersprüche verstrickt hat, als er sich entschloss, eine Figur aus Kindergeschichten in eine geradezu epische Erzählung einzuflechten.
1Beschreibung: LotR I, p.166.
2Fuller, Edmund: "Lord of the Hobbits: J.R.R. Tolkien", in: Isaacs (1968), p.23.
3Reilly, Robert J.: "Tolkien and the Fairy Story", in: Isaacs (1968), p.131.
4Gasque, Thomas J.: "Tolkien: The Monster and the Critters", in: Isaacs (1968), p.156.
5Nicht viel spricht für eine solche Vermutung, aber trotzdem wird sie - z.B. im Tolkien FAQ - diskutiert: Loos (1999) "G 1) Who or what was Tom Bombadil?" Tolkien selbst hat das natürlich abgelehnt: Letters, #153, pp.191-192.
6Day (1993), p.225: [über Tom]: "...Maia master of the forest..." und "...probably a Maia spirit...".
7LotR I, p.183.
8LotR I, pp.180-181.
9Hargrove, Gene: "Who is Tom Bombadil?" http://www.cas.unt.edu/~hargrove/bombadil.html (20. Juni 1999).
10Silmarillion, p.33: "Of the Maiar [...] Their number is not known."
11Silmarillion, p.45: "Spirits in the shape of hawks and eagles..." (meine Unterstreichung).
12Fenlon (1993), p.61+71.
13zitiert nach Tolkien FAQ: Loos (1999) "G 1) Who or what was Tom Bombadil?".
14Man darf hier nicht vergessen, dass Aulë als Schöpfer der Dwarves eine ganz besondere Verantwortung für die Kreaturen Mittelerdes trägt.
15Silmarillion, p.33: "Of the Maiar [...] of the same order as the Valar but of less degree."
16Tales, p.505 und Charlton (1996), p.8: "Radagast 'went native'".
17Tales, p.503.
18So wird Gandalf, der ein Maia der 240. Stufe ist, in seiner körperlichen Form als 80-stufiger Charakter behandelt, in Kämpfen sogar nur als Stufe 40: Fenlon (1993) p.77.
19Fenlon (1993), p.71.
20Foster, Robert: "The Complete Guide [to Tolkien]" p.496, zitiert nach: Hargrove, Gene: "Who is Tom Bombadil?" http://www.cas.unt.edu/~hargrove/bombadil.html (20. Juni 1999).
21Carpenter (1991), p.186.
22Letters, #153, p.192.
23Gasque, Thomas J.: "Tolkien: The Monster and the Critters", in: Isaacs (1968), p.154.
24Letters, #144, p.174.