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Ungoliant

Ungoliant - in ihrer äußeren Erscheinung eine riesige Spinne - ist ein spirituelles Wesen, dessen Herkunft ungeklärt bleibt: So beschreibt Tolkien sie als nicht irdisch:

"...some have said that in ages long before she descended from the darkness that lies about Arda, [...] and that in the beginning she was one of those that he [Melkor] corrupted to his service."1

Die Verwirrung um ihre Einordnung ist dementsprechend groß: Tyler bezeichnet sie gar als "entity of the Outer Darkness, called into being by Melkor"2. Dies suggeriert aber, dass Melkor sie erschaffen habe, was grundsätzlich falsch ist. Aus der Logik von Tolkiens göttlicher Hierarchie ergibt sich vielmehr, dass auch sie eine der Maiar sein muss, denn außerhalb von Arda haben nur Ainur und Ilúvatar selbst Bestand. Außerdem verweist er hier darauf, dass sie "verdorben" wurde, also nicht von Anfang an bösartig war. Das deckt sich eindeutig mit der Darstellung von Melkor als Ursprung alles Bösen3.

Trotzdem wurde die Natur Ungoliants in der ersten Auflage von MERP noch als ungewiss eingestuft4. Es gibt durchaus Gründe für ein solches Vorgehen: in der Beschreibung des gemein­samen Angriffes von Melkor und Ungoliant auf die lichtspendenden Bäume der Valar5 kommt es nach dem Raub der Silmaril zum Streit zwischen den beiden Dieben um die Beute. Als Melkor die Herausgabe der Silmaril verweigert, beginnt Ungoliant, ihn einzuspinnen und zu strangulieren6. Während ihre Macht durch den Konsum der Edelsteine, des Taus aus Vardas Brunnen und des Harzes der Lichtbäume drastisch angewachsen ist, hat Melkor zu diesem Zeitpunkt viel von seinen Kräften verausgabt. So kommt es, dass der mächtigste aller Valar sich nur mit der Hilfe seiner Diener (Balrogs aus Angband) aus dem Netz Ungoliants befreien kann. Offensichtlich führte die Betrachtung dieser Textstelle dazu, dass Ungoliant in der zweiten Auflage von MERP sogar explizit als "Spirit of the Void" außerhalb der Ainur7 bezeichnet wird. Anscheinend wurde es als sehr unwahrscheinlich eingestuft, dass eine niedere Maia der mächtigsten der Valar bezwingen könnte. Um dem Rechnung zu tragen, wurde Ungoliant kurzerhand aus den Ainur ausgegliedert, um so ihre Macht über Melkor plausibel erscheinen zu lassen. Außerdem wurde ihre Beschreibung konsequenterweise aufgeteilt in ihren Zustand vor und nach dem Angriff, der ihre Macht deutlich steigerte: So sind ihre Werte nach dem Leeren von Vardas Brunnen ca. 10% - 20% höher8, um mit Melkor konkurrieren zu können. Mit Level 500 und einem Offensivbonus von 520 würde sie das Bild der in MERP beschriebenen Maiar empfindlich stören9.

Trotzdem wirft eine solche Interpretation große Schwierigkeiten auf: so würde das Konzept eines bösartigen Geistes, der einfach aus der Leere kommt und damit ganz offensichtlich nicht Bestandteil von Erus Schöpfung ist, das ganze Weltbild von Tolkiens Sekundärwelt aus den Angeln heben - ganz abgesehen von dem deutlichen Hinweis darauf, dass auch Ungoliant nicht von Anfang an böse war, sondern von Melkor in Versuchung geführt wurde (der als alleiniger Ursprung alles Bösen gilt10) - wenngleich sie sich später auch von ihm lossagte11. Leider lassen sich aber tatsächlich Textstellen finden, in denen Tolkien selbst solche Thesen untermauert: So verweist Gandalf in dem Bericht über seinen Kampf mit dem Balrog von Moria auf die Herkunft der unterirdischen Gänge, durch die er seinen Gegner verfolgte:

"Far, far below the deepest delvings of the Dwarves, the world is gnawed by nameless things. Even Sauron knows them not. They are older than he."12

Nach der Logik des Silmarillion ist das schlechterdings unmöglich: die Ainur (und damit auch Sauron) existierten bereits vor der Schaffung von Arda, und außer ihnen und Eru gab es nur die Leere. Hier zeigt sich die gelegentliche Inkonsistenz von Tolkiens Werk aufgrund der Chronologie der einzelnen Teile: So wurde diese Passage des LotR vermutlich vor der genauen Ausarbeitung der Götterwelt Ardas geschrieben. Abgesehen davon ist die Schaffung einer vollständig plausiblen Sekundärwelt auch so gut wie unmöglich, und Imperfektionen gehören zur Fiktionalität genauso wie zu allen anderen menschlichen Werken13. Nicht zuletzt deshalb hat Tolkien so oft betont, dass nicht alle Schicksale Mittelerdes bekannt sind: Während man ihm einerseits vorhalten könnte, sich hinter der Rolle des Historikers zu verstecken, um Ungereimtheiten seines Werkes zu vertuschen, kann man diese Haltung aber auch als angemessen bewerten, um die fiktionale Welt realistischer erscheinen zu lassen. Wenn man also trotz alledem versucht, eine eindeutige Einordnung Ungoliants vorzunehmen, so erscheint es mir dennoch zwingend, sie als Maia einzustufen. Bei der Klassifizierung von anderen unklaren Charakteren ist MERP wesentlich konsequenter gestaltet worden - z.B. in Bezug auf Tom Bombadil, der als Figur noch wesentlich widersprüchlicher ist und trotzdem sehr angemessen in das Regelwerk von MERP integriert wurde.

Weiterhin ist an Ungoliant interessant, dass alle irdischen Spinnen Mittelerdes auf sie zurückzugehen scheinen, denn außer in Verbindung mit den Riesenspinnen Endors (z.B. Shelob in Mordor und die Spinnen im Mirkwood (Hobbit)14) werden "normale" Spinnen nie erwähnt. Damit ist eine ganze Gruppe natürlich auftretender Tiere eindeutig dem Bösen zugeordnet worden.

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1Silmarillion, p. 85.

2Tyler (1979). (meine Unterstreichung)

3Silmarillion, p.409: "Melkor The Quenya name for the great rebellious Vala, the beginning of evil...".

4Fenlon (1986), p.102: "Her [Ungoliant's] relationship to the Ainur was unknown..."

5Silmarillion, p.88.

6Silmarillion, p.94.

7Fenlon (1993), p.117.

8Fenlon (1986), p.103.

9Fenlon (1993), p.118.

10vgl. Day (1993), p.153: "...all evil in Arda found its beginning with him [Melkor]."

11Silmarillion, p.85: "But she had disowned her Master, desiring to be mistress of her own lust..."

12LotR II, p.128.

13dazu Tolkien selbst: "...inevitably my world is highly imperfect even on its own plane nor made wholly coherent..." Letters, #153 p.191

14LotR II, p.418.

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