Charaktere
Generell kann festgehalten werden, dass Tolkiens Beschreibungen äußerst sparsam gehalten sind; er verlässt sich damit sehr auf die Vorstellungskraft seiner Leser. Da meist nur besondere Kennzeichen beschrieben werden, ist der Leser darauf angewiesen, den Rest nach der Vorstellung eines prototypischen Menschen zu ergänzen. Fast scheint es, als zitiere Tolkien als Sub-creator das alttestamentarische Prinzip, man dürfe sich kein Bild [von seinem Gott] machen: So vermittelt er oft derart schwammige Vorstellungen von seinen Figuren, dass das Bedürfnis der Leser nach optischer Wahrnehmbarkeit selten befriedigt werden kann. Wie oben gesehen, resultieren daraus grafische Konzepte, gegen die sich Tolkien selbst deutlich verwahrt hätte. Offenbar war es dem Autoren hier selbst gar nicht so wichtig, bildliche Darstellungen seiner Schöpfungen präzisieren zu können: Indem er aus der Perspektive seines linguistischen und literarischen Hintergrundwissens den Kenntnisstand der meisten Leser überfordert oder sogar ignoriert, kommt es aber immer wieder zu Auslegungen seiner Figuren, gegen die Tolkien - leicht beleidigt - Einspruch erhebt1.
Nur so kann erklärt werden, warum sogar akademische Rezensenten einige seiner Kreaturen völlig missverstehen: So spricht Reilly z.B. von "flying Ringwraiths"2, wobei aus dem LotR eindeutig hervorgeht, dass die Ringgeister auf fell beasts reiten, weil sie selbst nicht fliegen können. Spätestens bei der Beschreibung des Mount Doom als "the volcano where it [the One Ring] was found"3, wird deutlich, dass (hier entweder ein grober Tippfehler vorliegt oder) Reilly einen zentralen Punkt der Erzählung völlig falsch versteht: Selbstverständlich muss es heißen: "where it was forged". Dass es sich hier um keinen Einzelfall handelt, zeigt Zimbardos Verständnis von Tolkiens Elves: getreu ihres literarischen Verständnisses zitiert sie brav die keltische Definition von Elfen4, indem sie z.B. sagt: "The elves5 [...] hover in trees and they are conceived as an aura, a halo... [etc.]"6, "...the elves are refined almost to essence, [...] float above the earth [sic!]"7. Die Körperlichkeit von Tolkiens Elben übersieht sie dabei völlig. Als weiteres Beispiel kann hier Pettys völlig überzogene Beschreibung von Galadriel als "goddess"8 dienen. Angesichts solcher Missverständnisse verwundert es wenig, wenn die Allgemeinheit der Leser ähnlich verwirrt ist über die Natur und das Äußere von Tolkiens Kreaturen: in den Fangemeinden werden Fragen der äußeren Erscheinung leidenschaftlich diskutiert, und Mutmaßungen über spitze Ohren der Elben sind nur ein Beispiel dafür.
Im Folgenden sollen daher einige ausgewählte Charaktere aus Tolkiens Werk genauer untersucht werden. Dabei muss bedacht werden, dass Figuren wie Gandalf oder Frodo natürlich nur in expliziten Tolkien-Produkten auftauchen: Erstens sind sie an Mittelerde und zweitens an das Copyright von Tolkien Enterprises gebunden. Im Gegensatz zu Hobbits, Orks und Trollen, die auch in anderen Systemen auftauchen, konzentriert sich dieses Kapitel also auf direkte Umsetzungen, von denen MERP die wichtigste ist. Dabei wird sich zeigen, dass in vielen Punkten die Autoren von Spielsystemen wesentlich bessere Beobachter sind als die o.g. Rezensenten, weil sie eine genauere Zielsetzung verfolgen, nämlich die möglichst originalgetreue Abbildung der Figuren aus Mittelerde.
1vgl. dazu seine Bewertung der Umsetzung einiger seiner Figuren in: Letters, #210, pp.270-277. Trotz aller berechtigter Beanstandungen kommen hier doch Fehlinterpretationen zu Tage, die auf zu sparsame Beschreibungen Tolkiens zurückgehen.
2Reilly, Robert J.: "Tolkien and the Fairy Story", in: Isaacs (1968), p.132.
3Reilly, Robert J.: "Tolkien and the Fairy Story", in: Isaacs (1968), p.132.
4Clute (1997), p.316: [keltische Elfen]: "...creatures of light and air..."
5man beachte die Kleinschreibung von "elves"!
6Zimbardo, Rose A.: "Moral Vision in the [LotR]", in: Isaacs (1968), pp.101-102.
7Zimbardo, Rose A.: "Moral Vision in the [LotR]", in: Isaacs (1968), p.104.
8Petty (1979), p.53.