Éowyn
Die Nichte König Théodens erschlug in der Schlacht um Minas Tirith den Ersten der Ringgeister (Lord of the Nazgûl). Dabei gelang ihr dies nicht unbedingt, weil sie eine unbesiegbare Kriegerin wäre (was sie mit Stufe 8 - noch - nicht war1), sondern weil sie damit die Prophezeiung vom Ende des Witch-King erfüllte: Éowyn hatte sich als Mann verkleidet, um unerkannt gegen den Willen ihres Onkels2 mit in die Schlacht zu ziehen. Als Théoden vom obersten Ringwraith erschlagen wird, konfrontiert sie diesen, indem sie die Herausgabe des toten Königs verlangt. Dem Nazgûl, den sie aufhalten will, war aber prophezeit worden: "...not by the hand of man will he fall"3, und so verhöhnt er sie nur mit den Worten:
[Nazgûl:] "Hinder me? Thou fool. No living man may hinder me!" [...]
[Éowyn:] "But no living man am I! You look upon a woman."4
Erst zu diesem Zeitpunkt nimmt Éowyn ihren Helm ab und gibt sich als Frau zu erkennen. Dabei schöpft die Prophezeiung die Polysemie des Wortes "man" als Mensch einerseits, aber als Mann andererseits voll aus: so glaubt der Witch-King, kein "Mensch" könne ihm gefährlich werden. Die Ironie ist perfekt, als er dann von einer (Menschen-) Frau und einem (männlichen) Hobbit gefällt wird. Das Ausreizen der Formulierung bis an die Grenze zur Überdehnung erinnert zwangsläufig an die Prophezeiung, deren Verlockung Macbeths Ende heraufbeschwor:
Macbeth: "...I bear a charmèd life, which must not yield
to one of woman born."
Macduff: "Despair thy charm,
And let the angel whom thou still hast served
Tell thee Macduff was from his mother's womb
Untimely ripped."5
Stellt man diesen Kampf einmal nach MERP-Regeln nach, so wird sehr deutlich, dass Éowyn auch auf die schicksalhafte Fügung angewiesen ist, um den Witch-King zu besiegen: So hat sie als Gegner zunächst das monströse geflügelte Reittier des Nazgûl zu überwinden (Abbildung 55): Laut Tolkien stößt das Tier von oben auf sie herab und wird mit dem ersten Schlag Éowyns sofort enthauptet. Da das fell beast die Initiative ergreift, müsste die Kriegerin zuerst der Attacke des Tieres ausweichen, bevor sie versuchen könnte, selbst zuzuschlagen. Wenn dies geschafft wäre, hätte sie eine Chance von lediglich 5%, um einen kritischen Treffer zu landen, der das Tier sofort töten oder wenigstens bis zum Ende des Kampfes bewusstlos schlagen würde. Im Anschluss hat der Nazgûl den nächsten Schlag: Tolkiens Leser haben Grund zum Zittern - der Herr der Ringgeister ist mit Stufe 606 ein übermächtiger Gegner für eine Normalsterbliche7. So hat Éowyn großes Glück, dass bei seinem Schlag nur ihr Schild und ihr Arm zerschmettert werden, denn der Nazgûl hat eine 85%ige Chance, wesentlich mehr Schaden anzurichten. Da sie trotzdem noch unter der Wucht des Schlages stürzt, kann sie nicht parieren, als der Ringgeist zum tödlichen Stoß ausholt.
Jetzt kommt Merry ins Spiel: Er hat die lähmende Angst,
welche die furchtbare Ausstrahlung des dunklen Reiters verursacht
hat, abschütteln können, weil der Nazgûl durch Éowyns
Einschreiten und die Erinnerung an die Prophezeiung abgelenkt ist.
Nur so kann Merry sich aus seinem Bann lösen - seine Chancen
stehen mit 80% sogar recht gut dafür8.
Da er nun von hinten zuschlagen kann und der Ringgeist ihn nicht
beachtet, erhält Merry einen beachtlichen Bonus auf diese
Attacke. Trotzdem liegen seine Chancen, dem Nazgûl mit einem
kritischen Treffer das Kniegelenk zu verletzen, nur bei 10 bis 20%.
Wenn sich nun der Kampf bis hierhin schon problematisch ausnimmt, so
wird der tödliche Streich gegen den Witch-King fast
unmöglich: der Nazgûl ist bis auf den leichten Treffer von
hinten bislang unversehrt und verliert lediglich für einen
Moment die Initiative. Éowyns Chance, ihn mit einer
nicht-magischen Waffe9
überhaupt zu treffen, sind denkbar schlecht: mit nur 20% kann
sie einen kritischen Treffer landen, und mit insgesamt nur einem
Prozent wäre dieser Treffer dann sofort tödlich, so wie
Tolkien es beschreibt - dass das ordinäre Breitschwert bei dem
Schlag zersplittert, versteht sich sowohl in MERP als auch bei
Tolkien von selbst. Interessanterweise bemüht sich sogar MERP
selbst darum, diese offenkundige Diskrepanz, dass Éowyn
eigentlich keine Chance gehabt hätte, plausibler erscheinen zu
lassen: so wird darauf hingewiesen, das der von Merry als Kurzschwert
benutzte Dolch aus Westernesse10
eine besonders fatale Wirkung auf den Witch-King habe. Diese
Waffe stammt nämlich in der Tat aus der gleichen Kultur wie der
Mensch, welcher der Ringwraith selbst einmal war, bevor Sauron
ihn versklavte. So argumentiert Fenlon hier mit "...breaking
the spell..."11,
was den Nazgûl ganz besonders verwundbar macht für den
tödlichen Stoß.
Dabei ist zu erkennen, wie die Logik von MERP und dem LotR
hier deutlich auseinanderläuft: So wird im Buch eine
Situation beschrieben, in welcher der Nazgûl hinfällt
und für eine Sekunde völlig handlungsunfähig ist.
Nach dieser Beschreibung kann Éowyn ihn eigentlich gar nicht
verfehlen: er kniet direkt vor ihr und kann für den Moment auch
nicht ausweichen. In Rollenspielen (nicht nur in MERP) dagegen
ist es üblich, dass ein Charakter in einer solchen Situation
lediglich einen schweren Malus erhält - bzw. ein Angriff auf ihn
wird mit Boni belohnt, was ihn einfacher zu treffen macht. Die Höhe
solcher Modifikatoren bewirkt aber bei Weitem keine
"Freistoß"-Situation, wie sie Tolkien suggeriert.
Hier liegen die Gründe zunächst in
Regelübersichtlichkeiten: Je mehr man versucht, komplexen
Situationen gerecht zu werden, desto komplexer werden unweigerlich
die Regeln des Spiels. Außerdem hat sich in Rollenspielen
Einvernehmen darüber ergeben, dass hochstufige Charaktere auch
dann noch sehr schwierig zu treffen sind, wenn sie schwerwiegende
Mali erhalten: Sogar um einen schlafenden oder benommenen Gegner zu
treffen, muss man immer noch würfeln, ob der Versuch gelingt.
Daraus ergibt sich zwar eine leicht unlogisch erscheinende Stärke
hochrangiger Charaktere, aber in erster Linie dient dies meistens
dazu, um zu verhindern, dass ein "Stufe 40"-Krieger von
einem "Stufe 1"-Spring-ins-Feld im Schlaf ermordet werden
kann. Dabei wird argumentiert, dass ein wirklich erfahrener Kämpfer
auch im Schlaf oder in Benommenheit schwer zu überraschen ist.
Und obwohl dies hier eine Diskrepanz zwischen Tolkiens Buch und dem Rollenspiel verursacht, findet sich sogar im Regelsystem von MERP ein Aspekt der Märchen-Logik von der ausgleichenden Gerechtigkeit wieder: Wer einen Charakter in langen Abenteuern mühsam zu einer starken und erfahrenen Figur "befördert" hat, möchte ihn nur ungerne an einen feigen Meuchelmörder verlieren. Und es spricht noch ein dritter Grund für die extrem schwere Bezwingbarkeit hoher Gegner: Feinde wie der Nazgûl müssen in Rollenspielen Furcht und Schrecken verbreiten, auch unter hochstufigen Kriegern. Könnte - etwas flapsig gesagt - jede dahergelaufene Nichte des Königs (wohlgemerkt ohne Kampferfahrung und ohne besondere Waffen) solche Gegner nur mit ihrem Zorn besiegen, verlöre das Spiel auf Dauer viel von seinem Reiz.
Betrachtet man also den Verlauf dieses Kampfes und das Ergebnis, so muss man natürlich beachten, dass in dieser Auseinandersetzung in der Tat das Schicksal eingreift: Tolkien kann seine Leser nur um Éowyn bangen lassen, wenn ihre Chancen auch dementsprechend schlecht stehen. So ist es dann das Schicksal selbst (in Form des Autors), das dafür sorgt, dass Éowyn und Merry das unwahrscheinliche Glück, das sie in dieser Situation brauchen, auch bekommen. Der Kampf zeigt aber auch, dass die Umsetzung in das Rollenspielsystem durchaus gelungen ist: fast alle bei Tolkien wichtigen Aspekte finden ihre Entsprechung im Regelwerk. Denn genauso unwahrscheinlich, wie diese MERP-Sequenz sich ausnimmt, mag manchem Leser die Beschreibung Tolkiens anmuten: Eine Frau, die statt einer gründlichen Waffenausbildung nur ihren gerechten Zorn mit in die Schlacht bringt, erschlägt Saurons obersten Befehlshaber persönlich mit einem einzigen Streich. Auch ohne genaues Durchrechnen kann man sich hier unschwer ausmalen, dass Éowyn und Merry ein geradezu unglaubliches Glück haben, nicht nur siegreich zu sein, sondern auch noch mit dem Leben davon zu kommen: Auch wenn sie unter den Schwarzen Atem des Nazgûl fallen, können sie davon später von Aragorn geheilt werden - anstatt auf der Stelle zu sterben, wie es jedem anderen ergangen wäre, der den Leichtsinn besessen hätte, sich einem Ringgeist entgegenzustellen. Hier tritt das märchentypische Element der ausgleichenden Gerechtigkeit übergroß in Erscheinung. So ist die Überheblichkeit des finsteren Reiters, einen kleinen Halbling und eine menschliche Frau zu unterschätzen, sein Untergang, denn er verliert am Anfang wertvolle Zeit, weil er glaubt, außer Gefahr zu sein.
In METW erhält Éowyn somit zwar einen hohen Bonus gegen Nazgûl, ist aber ansonsten eher eine mittelmäßige Kriegerin12. Betrachtet man ihre unmilitärische Vorgeschichte und ihre pazifistische Wandlung zur Heilerin nach der Schlacht, ist dies auch völlig angemessen.
1Fenlon (1987), p.58. Wir müssen hier davon ausgehen, dass sie die Erfahrung, um in die 24. Stufe aufzusteigen, hauptsächlich im Kampf gegen den Witch-King gewonnen hat.
2Théoden hatte sie als seine Stellvertreterin während seiner Abwesenheit bestimmt. LotR II, p.85.
3LotR III, p.407.
4LotR II, pp. 136-137.
5Shakespeare (1988), p.998.
6Fenlon (1987), p.98.
7So macht Marion Zimmer Bradley deutlich: "Éowyn and Merry face [...] an enemy far beyond their strength". Bradley, Marion: "Men, Halflings, and Hero Worship", in: Isaacs (1968), p.114.
8Obwohl das MERP-Regelwerk leider keine Rettungswürfe gegen Angst kennt, lassen sich die furchteinflößenden Präsenzen großer Wesen wie Nazgûl oder Balrogs mit Magie simulieren. Merrys gute Chancen resultieren hier aus der hohen Resistenz gegen Leitmagie, die Hobbits in MERP genießen.
9im Gegensatz zu Frodos "Sting", Gandalfs "Glamdring" etc. gibt Tolkien bei Éowyn keinerlei Hinweis darauf, dass sie im Besitz einer magischen Waffe ist - wir müssen also davon ausgehen, dass sie ein Standardschwert benutzt, wie es die anderen Soldaten auch tragen.
10LotR I, p.199.
11Fenlon (1987), p.102.
12Charlton (1996), p.19.