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Sam

Noch un­wahr­schein­licher als das Ende des Ersten Ring­geistes er­scheint der Kampf Sam Gamgees gegen Shelob: Tolkien hat selbst deutlich gemacht, dass Sam hier eine Leistung voll­bringt, die die größten Helden unter Menschen­kriegern nicht zu­wege ge­bracht hätten1. So geht es ihm auch mehr um die Dar­stellung der un­geheuren Loyalität Sams2 und der Fähig­keiten, die noch in ihm schlummern, als um ein "realistisches" Duell. Trotz­dem muss auch dieser Kampf natürlich plausibel erscheinen, und das fängt wie bei allen großen Kreaturen damit an, dass der unterlegene Angreifer der furchterregenden Aura des Monsters widerstehen muss: Sam hat hier den Vorteil, dass er - rasend vor Wut - fast in Shelob hinein rennt, ohne Zeit zum Überlegen zu haben (Abbildung 57). So ist er schon dabei, auf ihre Beine einzuhauen, als sie ihn eines Blickes würdigt und er die "dreadful malice of her glance"3 zu spüren bekommt. Wie bei Merry (s.o.) habe ich auch hier diese Furcht mit Hilfe eines magischen Spruches simuliert. Aufgrund der hohen Magie­resistenz von Hobbits in MERP hat Sam hier mit 60% realistische Chancen, nicht schreiend davonzulaufen oder wie angewurzelt stehen zu bleiben. Der Versuch, eine ihrer Klauen abzuhauen, so wie Tolkien es beschreibt, wäre in MERP zu 50% erfolgreich gewesen. Weiterhin hätte ein solcher Treffer Shelob für ca. 20 Sekunden benommen gemacht. Das hätte sein Manöver erleichtert, ungeschoren an ihrer Hauptwaffe - den Mundwerkzeugen - vorbei unter ihren Unterleib zu gelangen. Trotzdem sind seine Chancen, dabei eines ihrer Augen auszustechen, mit 10% relativ gering. An dieser Stelle wird das erste von mehreren Malen auf Shelobs nahezu unerträg­lichen Gestank hingewie­sen. Da es auch hier keine direkte Entsprechung in MERP gibt, kann man Sams Ringen gegen die drohende Ohnmacht mit einer sehr leichten Ver­giftung simulieren - und die wäre mit 90% Resistenz kein großes Problem für ihn, da Hobbits in MERP auch gegen Gift recht unempfindlich sind. Der oberflächliche Kratzer, den er ihr danach beibringt, ist mit 70% noch recht wahrscheinlich, worauf dann der kritische Treffer folgt: Shelob stößt ihren Unterleib auf Sam, um ihn unter sich zu begraben - während er mit beiden Händen seinen Elbendolch nach oben hält. Diese Situation ist sehr problematisch umzusetzen, weil die Wucht, mit der sich Sting in Shelobs Bauch bohrt, nicht auf Sams, sondern auf ihren eigenen Schlag zurückgeht. Um dies angemessen zu simulieren, habe ich Shelobs Angriff mit Sams Waffe auf sie selbst verrechnet, bevor Sam von ihrem Leib getroffen wird. Besonders da es hier kein kritischer Treffer sein muss, ist es mit 60% noch relativ wahrscheinlich, dass Sams Dolch ihre dicke lederartige Haut durchstößt - wichtig ist hier nicht, wirklichen Schaden anzurichten, sondern nur, empfindlichen Schmerz zu verursachen. Für den Fall, dass Sam abrutscht und der Stich misslingt, muss er einen Schlag von oben nehmen, den er auch in MERP nicht überleben würde (Bewusstlosigkeit wäre in dieser Situation schon gleichbedeutend mit Tod). Für den Fall jedoch, dass der Schlag gelingt, hat Tolkien darauf geachtet, Shelob reflexartig aufspringen zu lassen, damit Sam nicht unter ihr zermalmt wird. Dabei wird auch in MERP explizit darauf hingewiesen, dass Shelob ein grundlegend feiges Wesen ist. Sie ist Widerstand und Schmerzen nicht gewohnt und reagiert daher sehr empfindlich darauf. Dementsprechend wäre es auch im Rollenspiel angebracht, sie zunächst flüchten zu lassen. Für einen Moment ist sie außer Reichweite und kann von Sam nicht weiter verletzt werden. Als sie sich dann auf einen tödlichen Sprung vorbereitet, hat Sam keine konventionellen Mittel mehr übrig. So fällt ihm erst jetzt die leuchtende Phiole ein, die Frodo von Galadriel in Lothlórien bekommen hat. Die verheerende Wirkung, die ihr Licht auf Shelobs verwundetes Auge hat, ist geradezu unwahrscheinlich, wenn man die Größe und Macht der Riesenspinne bedenkt; und trotzdem braucht man in MERP nicht einmal zu würfeln, (m.a.W. 100%) um zu Tolkiens Ergebnis zu kommen: Shelobs einzige Chance ist die Flucht. Zweifellos geht die Beschreibung der Phiole in MERP auf genau diese Textstelle zurück - und damit kann sie ihre Wirkung gar nicht verfehlen.

Besonders angesichts der unglaublichen Macht der Phiole stellt Tolkien hier die Kraft des Lichtes in den Vordergrund, aber auch der Zorn des Gerechten ist überdeutlich. So finden wir hier in der literarischen Vorlage vor allem wieder das märchen-hafte Konzept von Gut und Böse. Interessant ist dabei, dass Tolkien sich in seiner Begeisterung, einen kleinen Hobbit eine dämonische Riesenspinne in die Flucht schlagen zu lassen, sogar dazu hinreißen lässt, das Licht der elbischen Phiole als "dreadful infection of light"4 in Shelobs Augen zu beschreiben, eine Terminologie, die normalerweise ausschließlich für die verderbten Kräfte des Bösen reserviert bleibt. In dem zornigen Rausch, mit dem Sam zuerst auf Gollum losgehen will, bevor er an Shelob gerät, genießt der Autor - und mit ihm der Leser - zweifellos auch den Schmerz und den Schaden, den der Hobbit der monströsen Shelob zufügen kann. An dieser Stelle treten christliche Motive zugunsten von heroischer Rache in den Hintergrund.

Bei der Betrachtung der Spielumsetzung verwundert es hier zunächst, dass Sam ganz eindeutig bessere Chancen gegen die große Spinne hat als Éowyn und Merry gegen den Nazgûl. Dies ist einerseits mit Shelobs Feigheit zu erklären: Sie nutzt die ihr zu Verfügung stehenden Mittel nicht voll aus. Andererseits sind Hobbits in MERP zwar keine großen Krieger, aber (nach Tolkien recht angemessen) flink und geschickt - und enorm zäh. Vor allem diese Zähigkeit war es neben dem Mut, den Tolkien als schlummernde Fähigkeit in seinen Hobbits angelegt hat, um sie in Krisensituationen über sich selbst hinaus wachsen zu lassen. Außerdem muss Sam Shelob nur verwunden, um sie dann mit der Phiole in die Flucht zu schlagen - Éowyn muss den Nazgûl töten.

Insgesamt muss hier aber vor allem darauf hingewiesen werden, dass die beiden oben stehenden Kämpfe so präzise wie möglich an Tolkiens Text orientiert sind. Würde man die Kämpfenden all ihre Fähigkeiten nutzen lassen, die ihnen in MERP zu Verfügung stehen, so lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass die "Guten" nicht den Hauch einer Chance gehabt hätten. In dem Bemühen, unsterbliche Monster wie die Nazgûl oder Shelob möglichst furchterregend zu gestalten, hat Fenlon sie mit magischen Fähigkeiten ausgerüstet, von den Tolkien nichts ahnen konnte. Im Sinne von MERP kann man sagen, dass die o.g. Konfrontationen quasi mit "angezogener Handbremse" stattfanden. Da es sich in Fantasy-Rollenspielen aber eingebürgert hat, ein weitreichendes und mächtiges Magiesystem zu integrieren, mussten die Monster den Fähigkeiten der Spieler angepasst und "aufgerüstet" werden, um ihren Schrecken nicht zu verlieren. In einer ungebremsten Kampfsituation könnten solche Monster das Opfer schon töten, bevor es den ersten Schlag versucht: So würde Shelob sich in der Dunkelheit verbergen und die Hobbits aus dem Hinterhalt mit magischen Sprüchen lähmen, bevor sie sich aus ihrer Nische hervorwagt. Ihre Opfer würden sie selbst nie zu Gesicht bekommen.

So bleibt festzuhalten, dass das Regelwerk aufgrund der Offenheit von Rollenspiel­systemen versuchen muss, in sich "realistisch" und geschlossen zu sein. Die künstlerische Freiheit, die Spieler in der Auslegung der Regeln haben, wird im Allgemeinen dazu benutzt, um Änderungen vorzunehmen, die das Spiel plausibler erscheinen lassen. Natürlich gibt es auch hier divine intervention des Spielleiters nach eigenem Ermessen (wie es ein Autor beim Schreiben tut) aber wenn solche Eingriffe überhand nehmen, verliert das Spiel früher oder später seinen Reiz. Und speziell in Kampfsituationen ist direkte Einflussnahme eher verpönt, weil sich hier die gnadenlose Härte der Realität widerspiegeln soll. Wenn sich die Spieler darauf geeinigt haben, eine Begegnung nach den Regeln auszuwürfeln, ist das Ergebnis des Wurfes (meistens) Gesetz. In dieser Unvorhersehbarkeit und dem Risiko, dass immer etwas schiefgehen kann, liegt für viele der besondere Reiz an Rollenspielen. Dem gegenüber werden gerade im LotR (und eben in Märchen) Zweikämpfe unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachtet: hier zeigt sich die Moral des Werkes, hier werden Helden für ihre Tugendhaftigkeit belohnt und Schurken bestraft, oder - im Falle von reuigen Sündern - die Absolution erteilt5. Der Kampf erscheint hier als Gottesgericht, in dem nicht so sehr die Leistung der Streitenden während des Gemenges, sondern ihr Verhalten davor zur Geltung kommt. Dabei ist es mitunter notwendig, dass die "Guten" mit enormem Glück vom Schicksal verwöhnt werden, um ihre Funktion als Werkzeug der göttlichen Gerechtigkeit erfüllen zu können.

Gleichwohl muss darauf hingewiesen werden, dass nur der Hobbit und der LotR diesem Muster weitgehend folgen - im Silmarillion und den Tales bietet sich aufgrund des andersartigen Erzählstils ein völlig anderes Bild: der historizierende Ton, den Tolkien hier anschlägt, lässt es bei der Fülle der auftretenden Charaktere durchaus zu, ab und zu einen "guten" Charakter auf hoffnungslos verlorenem Posten erschlagen zu lassen. In diesen Fällen dient der Tod eines Helden aber weniger dazu, ihn für vorangegangene Sünden zu strafen, sondern z.B., um das Böse in seiner niederträchtigsten Form darzustellen6 oder ein tragisches Schicksal zu erfüllen7. Hier zeigt sich eine völlig andere fiktionale Logik, die im Sinne von "realistischen" Konfrontationen plausibler erscheint. Auch wenn dabei oft der Tod eines Helden damit erträglicher gemacht wird, dass er (ganz im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit) einen mächtigen Gegner gefällt hat8, so muten solche Kämpfe weniger unwahrscheinlich an als die beiden oben geschilderten, weil die Gegner nicht so extrem ungleich sind wie im LotR: die Elbenkönige im Silmarillion stehen in der Blüte ihrer Macht zum Zeitpunkt ihrer Kriege gegen Morgoths Heerscharen. Natürlich wird daran auch deutlich, dass gerade die Hobbits als unwahrscheinlichste Sieger solcher Kämpfe für den Leser die stärksten Identifikationsfiguren abgeben: Gerade in der Entdeckung verborgener Kräfte hat Tolkien sie bewusst als Projektionsflächen für die Sehnsüchte des Lesers nach heroischer Wichtigkeit konzipiert.

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1LotR II, p.424.

2Bradley bezeichnet Sam gar als den eigentlichen Helden der Erzählung, weil er im Gegensatz zu Frodo niemals das Ziel (the Quest) aus den Augen verloren hat: "Sam has achieved true maturity". Bradley, Marion: "Men, Halflings, and Hero Worship", in: Isaacs (1968), p.124.

3LotR II, p.423.

4LotR II, p.425.

5vgl. das Ende von Boromir bzw. Théoden

6vgl. Fingons Tod in Silmarillion, p.233, bei dem nicht nur zwei Balrogs [!] nötig sind, um den Elbenkönig zu fällen, sondern einer von den beiden ihn auch von hinten angreifen muss, um den Helden mit einer Peitsche zu fesseln, während der andere ihn von vorne erschlägt.

7vgl. das Ende von Túrin und Nienor, das überdeutlich die tragische Verwechslung und den Tod der Liebenden in Shakespeare's "Romeo and Juliet" zitiert: Silmarillion, pp.269-273.

vgl. weiter Fingolfins tragisches Ende im aussichtslosen Duell gegen Morgoth: Silmarillion, p.185.

8so z.B. Ecthelion und Gothmog, der Lord der Balrogs, die sich gegenseitig erschlugen: Silmarillion, p.292, pp.391-392.

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