Fazit
Fassen wir also zusammen: Zu Tolkiens generellem Einfluss muss der Schwerpunkt auf die Kreaturen in heutiger fantasy gelegt werden: So sind die modernen Elves, Dwarves und goblins stark durch Tolkien beeinflusst, Hobbits und Orcs sowieso.
Besonders am Beispiel der Elves ist Tolkiens Hinterlassenschaft deutlich geworden: "Tolkien's image of elves now dominates most genre fantasy"1. Sein größter Einfluss bestand darin, sie als körperliche Wesen darzustellen und damit die mysteriöse Unnahbarkeit der Märchen-Elfen zu überwinden, sowie in der Festlegung auf die menschengroße, ungeflügelte Form. Auch sein (möglicherweise unbewusstes) Konzept vom elbischen "Übermenschen" hat deutliche Spuren hinterlassen. Zwar lebt die Mehrdeutigkeit und Unübersichtlichkeit verschiedener Elfenkonzepte weiter, aber besonders im Bereich von Spielen ist hier Tolkiens Version maßgeblich.
Das Gleiche gilt um so mehr für Dwarves: "...modern treatment of dwarfs can be traced to J.R.R. Tolkien"2. Die Übernahme seiner Präzisierung der Zwerge lässt sich an vielen Punkten eindeutig belegen: ihre Sturheit, ihre Bärte, ihre unterirdischen Behausungen und die Abneigung gegen offene Gewässer, ihre Ablehnung großer Reittiere, die Verwendung von Äxten statt Schwertern, der geringe weibliche Anteil der zwergischen Bevölkerung, ihre hohe Lebensdauer (aber keine Unsterblichkeit) sowie die Feindschaft zwischen dwarfs und elves lassen sich allesamt an Tolkien festmachen. Außerdem sind Zwerge zur Standardbesetzung für jedes fantasy-Spiel geworden: "...dwarfs have now become stock characters in most heroic fantasy..."3. Dabei ist im Gegensatz zu Elfen das heutige Zwergenbild auch außerhalb des fantasy-Sektors sehr eindeutig, namentlich das von Tolkien.
Weiterhin sind seine Orks nicht nur zum Standardmonster schlechthin avanciert: Sogar seine inkonsistente Benennung von orcs und goblins hat auch alle modernen goblins deutlich geprägt. Ohne diese halbtierischen Schurken wäre kein heutiges fantasy-Spiel denkbar.
Ebenso haben Tolkiens Trolle das Konzept ihrer vielfältigen Märchen-Vorbilder präzisiert. So lassen viele moderne Trolle zwar noch immer ihre Herkunft aus fairy-tales erkennen, zeigen aber oft die gleichen Schwerpunkte in ihrer Auslegung wie jene in Tolkiens Werk.
Abgesehen von der Prägung oder Neuinterpretation bekannter Fabelwesen haben aber auch Tolkiens ganz eigene Kreationen wie Ents und Hobbits einen bleibenden Eindruck hinterlassen: So tauchen besonders Halblinge in leicht variierten Formen in vielen heutigen Werken der fantasy auf.
Bei aller Prägung moderner Vorstellungen ist aber Tolkiens negatives Verständnis von technologisch-industrieller Magie den meisten heutigen fantasy-Fans und Rollenspielern recht fremd. In dieser Hinsicht werden fast ausschließlich neuere, zumeist handwerklich-technische Konzepte benutzt, die mit Tolkien relativ wenig zu tun haben.
Betrachtet man den Umgang mit Tolkiens Texten in direkten Umsetzungen, so stellt man eine erstaunliche Gewissenhaftigkeit in der Interpretation fest: Besonders MERP legt Tolkiens Texte sehr sorgfältig aus und verschafft Spielern damit einen weitergehenden Einblick in die Welt von Mittelerde. So werden viele strittige Punkte zwar eindeutig, aber plausibel geklärt: die Herkunft Gollums, die Lebensart der Orks, die Natur der Uruk-hai im Vergleich zu Sarumans Halborks, das Wesen Tom Bombadils, die Bedeutung sterblicher Körper für unsterbliche Wesen und viele andere Details. Die einzige Fehlinterpretation liegt meiner Ansicht nach lediglich in der Einordnung Ungoliants. Ansonsten erweist sich das Spielsystem als überaus sauber recherchiert und zeigt dabei eine wesentlich höhere Trefferquote in der textimmanenten Analyse als so mancher Literaturwissenschaftler. Generell gehen die Meisten sehr sorgfältig mit Tolkiens Text um: Auch der Hobbit-Comic und sogar Bakshis Film halten sich in ihrer grafischen Darstellung teilweise minutiös an das Original. Selbst die meisten InterNet-Seiten, die ich für diese Arbeit untersucht habe, zeigten große Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit. Es scheint, als ob Fans, die genug Geduld an den Tag legen, sich durch Tolkiens Epos und seine unzähligen (teils widersprüchlichen) Fragmente zu arbeiten, auch die Ernsthaftigkeit aufbringen, keine bewussten oder fahrlässigen Verfälschungen vorzunehmen.
Betrachtet man das Genre als Ganzes, so war es eindeutig Tolkien, der fantasy "salonfähig" gemacht hat: "...both novels [LotR und Hobbit] were written before readers were accustomed to secondary worlds [...] This autonomy constituted a revolution."4 Auch wenn er dabei größtenteils existierende Prinzipien aus "Faerie" entlehnt hat, so war es doch sein Verdienst, die Märchenwelt aus der Kinderliteratur auszukoppeln. Damit hat er die Akzeptanz einer Sekundärwelt in der Leserschaft durchgesetzt und den Weg für ein gesamtes Genre geebnet. Dabei ist es bezeichnend, dass das Comic-Genre selbst in ausgesprochenen fantasy-Werken von Tolkien wenig berührt scheint: Anhand der sehr unbildlichen Beschreibungen der Figuren Mittelerdes wird aber deutlich, warum es für die meisten Zeichner wesentlich reizvoller ist, eigene Kreaturen zu entwerfen, als zu versuchen, eine möglicherweise fehlerhafte Umsetzung vorzunehmen. So tauchen nur wenige Aspekte wie die Körperlichkeit der modernen Elfen in der Comic-Welt auf.
Die momentanen (1999) Bemühungen mehrerer Produktionen, zur Jahrtausendwende einen neuen Tolkien-Boom loszutreten, hängt maßgeblich von der Qualität und dem kommerziellen Erfolg des anstehenden Jackson-Films ab. Besonders als Antidot zu Star Wars: Episode I ist ein Publikumserfolg jedenfalls denkbar. Ob METW und MERP dadurch als Spielsysteme erfolgreich wiederbelebt werden können, ist fragwürdig, aber es darf erwartet werden, dass fantasy als Genre damit einen Popularitätsschub erfahren wird: Jackson selbst hat darauf hingewiesen, dass im Gegensatz zu science fiction bisher noch kein expliziter fantasy-Film einen wirklichen Erfolg beim Massenpublikum verbuchen konnte5. Da aber in den letzten Jahren der Bereich von fantasy-Spielen (besonders durch Magic: the Gathering) bei einem breiteren Publikum populär geworden ist, liegt ein Kassenerfolg des Jackson-Films durchaus im Bereich des Möglichen. In jedem Fall ist besonders am LotR leicht nachzuvollziehen, mit welchem unglaublichen Aufwand ein solches Werk verfilmt werden muss, und die Technologie (vor allem durch Computeranimation6) für solche Herausforderungen ist gerade erst dabei, entwickelt zu werden. Insofern darf man gespannt sein, ob Jacksons Film überzeugen kann - denn wie auch Bakshis Werk wird dies für einige Zeit die letzte LotR-Verfilmung sein.
So oder so hat Tolkiens Erbe eine äußerst beachtliche Anhängerschaft, wie zahllose InterNet-Seiten, Online-Spiele und Tolkien Societies7 belegen. Dabei sind viele seiner Konzepte von Fans so verinnerlicht worden, dass sich die Frage nach anderen Auslegungen oft gar nicht stellt: So ist mir selbst im Laufe dieser Arbeit bewusst geworden, wie sehr mein Bild der hier behandelten Fabelwesen auf Tolkiens Werk aufbaut. Natürlich hatte ich auch von anderen Konzepten aus Märchen und Sagen gehört, aber ein "echter" Zwerg war für mich immer und fraglos ein Bewohner Mittelerdes, und ein "echter" Elb ist über die Albernheiten Shakespeare'scher fairies natürlich weit erhaben. Dabei liegt die Stärke von Tolkiens Kreaturen vor Allem in ihrer Verbindlichkeit: Die Vollständigkeit und Geschlossenheit von Mittelerde als Sekundärwelt macht es so attraktiv, seine Figuren zu übernehmen. Insofern darf man Tolkien beruhigen, wenn er Angst hatte, die semantischen Überfrachtungen der von ihm benutzten Begriffe nicht abgeschüttelt zu haben: Seine Versionen haben sich heute stärker durchgesetzt als ihm vielleicht bewusst war, als er noch gegen die "damn cobwebs" wetterte. Möglicherweise ist sein Einfluss auch deshalb so groß, weil er für Viele heute schon gar nicht mehr nachvollziehbar ist: Ein Zwerg ist ein Zwerg ist ein Zwerg, und wenige machen sich klar, dass es einmal ganz andere dwarfs gab, die keine Probleme mit dem Meer hatten, und die mit den (ihnen heute so suspekten) Elfen sogar verwandt waren. Mittlerweile ist eine ganze Generation von fantasy-Liebhabern mit dem Lord of the Rings aufgewachsen, und je populärer Mittelerde wird, desto mehr werden die Märchen-Urahnen von Tolkiens Kreaturen wahrscheinlich verblassen.
Insofern möchte ich schließen mit dem Verweis auf die anfangs aufgeworfene Frage nach Tolkiens Rolle in unserem modernen Verständnis von fantasy: Ja, man kann ihn eindeutig als Gründervater dieses Genres bezeichnen, und die Anzahl der direkten und indirekten Anlehnungen an sein Werk belegt, wie viele Autoren, Leser und Spieler sein Erbe heute weiterführen.
1Clute (1997), p.316.
2Clute (1997), p.304.
3Clute (1997), p.304.
4Clute (1997), p.952.
5in: Los Angeles Times http://worldspinner.com/silmaril/shire/Tolkien/misc/t000076988.html (9. Aug. 1999).
6vgl. auch dazu wieder Star Wars Episode I, wo die Übergänge zwischen Realaufnahme und Computertrick nur noch selten sichtbar werden.
7http://www.worldspinner.net/silmaril/links/links.shtml#Societies