Rollenspiele
Die Herkunft des Rollenspiels lässt sich bis zur Schauspielerei der
Antike zurück verfolgen, und im engeren Sinne taucht es heute z.B. in der
Psychotherapie1 und als Handlungsmuster im
Unterricht2 auf. Das fantasy-Rollenspiel
belegt dabei eine besondere Nische, denn es ist im Gegensatz zu den anderen
Formen als reines Spiel gedacht und basiert nicht auf therapeutischen oder
pädagogischen Hintergedanken (auch wenn es in diesem Sinne durchaus oft als
wertvoll gelten darf). Das Rollenspiel ist hier als Spiel im
grundlegendsten Sinne konzipiert und soll in erster Linie der Unterhaltung und
Entspannung dienen.
Bevor ich auf eine allgemeine Beschreibung eingehe, ist es jedoch
wichtig, die hierbei benutzte Terminologie zu klären: Begriffe wie "race"
und "character" sind als direkte
Übertragungen aus dem Englischen in die deutsche Rollenspielszene importiert
worden, was den für deutsche Nicht-Rollenspieler befremdlichen Gebrauch des
Wortes "Charakter" erklärt: Ein Rollenspiel-"Charakter"
ist in diesem Sinne eine fiktionale Figur, die vom Spieler gesteuert
wird, nicht etwa eine Eigenschaft dieser Figur oder des Spielers. Ich
bitte zu beachten, dass ich im Folgenden hauptsächlich diese anglisierende
Variante des Begriffs benutzen werde, da sie im Rahmen von fantasy-Rollenspielen
zum terminus technicus geworden ist und mir damit akzeptabel in dieser
Umgebung erscheint.
Versucht man, das
Wesen von fantasy-Rollenspielen zu definieren, so lassen sie sich am
treffendsten als "Interaktive Literatur"3
beschreiben, denn erst das Zusammenwirken mehrerer Rezipienten erschafft die
Fiktion als gemeinsames Erlebnis. Dabei übernimmt einer der Spieler die
Funktion des Spielleiters oder "Masters", die anderen
übernehmen die Kontrolle je einer Spielfigur (eines "Charakters").
Der Spielleiter ist dabei - gleich einem Regisseur - für die Beschreibung der
Sekundärwelt zuständig und steuert sämtliche Nicht-Spieler-Figuren, Tiere und
Naturgewalten. Die Spieler bewegen sich dann mit ihren Figuren als gemeinsame
Gruppe durch die Sekundärwelt und versuchen meistens, Aufgaben (Quests)
zu lösen, Schätze zu finden, oder bösartige Gegner zu besiegen. Dabei wird jede
Figur vor Spielbeginn detailliert festgelegt. So kann sich der Spieler für
einige Eigenschaften seiner Figur frei entscheiden (z.B. Beruf [class],
Rasse [race], Gesinnung etc.), muss aber die Hauptattribute (z.B.
Stärke, Geschicklichkeit, Intelligenz etc.) seines Charakters auswürfeln. Dabei
kommt es darauf an, die schlechten Würfe auf unwichtigere Attribute zu legen,
um die Spielfigur gemäß ihren Stärken auszubauen4.
Sind dann alle
Charaktere fertig und das eigentliche Spiel beginnt, beschreibt der Master
den Spielern immer das, was deren Charaktere im Spiel gerade wahrnehmen. Er
folgt dabei der Vorlage des Abenteuermoduls, das die Gruppe gerade spielt: Hier
sind alle Orte, Figuren und Gefahren des jeweiligen Abenteuers beschrieben.
Indem die Spieler immer nur den Ausschnitt ihrer Charaktere sehen, müssen sie
das Gebiet erkunden und versuchen, mit widrigen Umständen wie z.B. übellaunigen
Angreifern fertig zu werden. Grundsätzlich nimmt der Spielleiter damit die
Position eines auktorialen Erzählers ein, weil er als einziger das gesamte
Geschehen überblickt. Die Spieler füllen die Rollen einzelner Figuren in der
Geschichte aus, die allerdings nicht direkt an den Erzähler gebunden sind.
Somit ergibt sich der plot der Geschichte aus der Interaktion der
Spieler mit der Sekundärwelt (repräsentiert durch den Master). Man
könnte hier auch von "Computersimulation ohne Computer" sprechen: für
die Spieler bietet sich eine komplette fiktionale Welt, in der sie sich mit ihren
Charakteren beweisen müssen. Der Spielleiter hingegen verfügt über die volle
Gewalt eines Sub-creators, denn er kann jederzeit einen act of God
im Spiel vollziehen. Die fiktionale Leistung wird hier also im Zusammenspiel
aller Beteiligter erbracht, und besonders kreative Ideen, die vom Skript
abweichen, sind für gewöhnlich die beliebtesten. Dabei ist das Verlassen der
Vorlage lediglich Vereinbarungssache unter den Spielern, und jedes
Rollenspielsystem weist im Vorwort explizit darauf hin, dass der Text des
Regelwerks nicht als Gesetz zu verstehen ist - erlaubt ist alles, was
spielförderlich erscheint. Damit ermöglichen fantasy-Rollenspiele
äußerst kreative Spielverläufe.
Im Falle der Sub-Form des Live Action Roleplaying (LARP) ist
sogar wieder eine starke Rückkehr zur Schauspielerei zu beobachten: Hier
begnügen sich die Spieler nicht damit, die fiktionale Welt im Kopf entstehen zu
lassen, sondern erschaffen sie innerhalb der realen Umgebung mit Hilfe von
Kostümen selbst. In groß angelegten Treffen mit Gleichgesinnten nehmen Spieler
die Rolle ihres Charakters an und interagieren mit allen anderen Spielern nur
auf der Ebene der gemeinsamen Fiktion. Im Prinzip findet dann nichts anderes
als ein groß inszeniertes Schauspiel statt, nur dass die Schauspieler kein
Drehbuch haben und nicht für ein Publikum, sondern für sich selbst spielen.
Dabei bemühen sich
Rollenspiele darum, ein möglichst realistisches Setting aufzubauen: So kann
bzw. muss man einen Charakter relativ lange spielen, um sein Potential nutzen
zu können: Das Hauptziel aller Spieler ist immer die Verbesserung des
Spielcharakters - dabei kann man durchaus von Bildung reden. Denn ein
Charakter sammelt um so mehr Erfahrungspunkte (EPs), in je mehr Abenteuer er
verstrickt war. Diese EPs dienen als Berechnungsgrundlage für die Stufe (Level)
des Charakters. So entspricht Stufe 1 einem blutigen Anfänger, während die
Meister-Ränge je nach System bei Level 20-60 anfangen. Erst ein wirklich
erfahrener Charakter kann seine Fähigkeiten voll entfalten. Somit ist jeder
Rollenspiel-Charakter auch ein Alter Ego des Spielers, mit dem er
fiktive Lebensläufe simulieren kann. Im LotR wird die Bedeutung solcher
Erfahrung deutlich, als Saruman am Ende zu Frodo sagt:
"'You have grown, Halfling,' he said. 'Yes, you have grown very
much. You are wise...'"5
Bradley weist hier
auf den Kontrast zu Frodos anfänglicher Haltung gegenüber Gollum hin6:
Frodo hat durch seine Erfahrungen in Mordor seinen Charakter [diesmal im
deutschen Sinne] gebildet und Einsichten gewonnen, die er zu Hause im Shire
sicherlich nicht bekommen hätte. Auch Merry und Pippin haben dazugelernt und
zeigen plötzlich Führungsqualitäten, die niemand ihnen zugetraut hätte: Sie
organisieren den Widerstand gegen "Sharkey", wie Saruman im Shire
genannt wird und befreien ihre Heimat aus der Unterwerfung des gefallenen
Zauberers. Die Fähigkeit eines Spielsystems, solche Entwicklungen in der
Spielmechanik zu simulieren, erfordert daher ein Sekundärwelt, die der
literarischen in nichts nachsteht.
Das erste wichtige fantasy-Rollenspiel
Dungeons and Dragons (D&D) wurde gegen Anfang der 80er Jahre
zunächst in den USA und später international veröffentlicht7.
Da es noch relativ einfach gestrickt war, wurde es später zu Advanced
Dungeons and Dragons (AD&D) ausgebaut. Als Reaktion auf D&D
erschien das deutsche Rollenspielsystem Das Schwarze Auge (DSA),
das auf dem deutschen Markt bis heute Standard geblieben ist. Das offizielle
Mittelerde-Rollenspiel Middle-earth Roleplaying (MERP) wurde 1984
veröffentlicht und versuchte damit offensichtlich, den Erfolg von D&D mit
dem des LotR zu verknüpfen. MERP selbst ist dann später zu RoleMaster
weiterentwickelt worden, um auch Settings außerhalb von Mittelerde zu
ermöglichen. Heute gibt es zahlreiche andere fantasy-Rollenspiele, die
sich auch in den Grenzbereichen von Science Fiction und Horror bewegen, unter
den klassischen sind aber AD&D und DSA in Deutschland die wichtigsten
geblieben - zu D&D wurde in den USA sogar eine Zeichentrick-TV-Serie
produziert8. MERP war kommerziell gesehen nicht
ganz so erfolgreich wie seine Vorbilder und ist momentan auch größtenteils
vergriffen (d.h. wird nicht nachgedruckt), während AD&D und DSA immer noch
die Ladenregale bestücken. Besonders unter Berücksichtigung anderer
Tolkien-basierter Spiele (s.u.) wird deutlich, wie der Tolkien-Spiele-Boom der
späten 80er Jahre in den 90ern stark abflaute. Die geplante Neuverfilmung des LotR
und die Veröffentlichung mehrerer großer Spieleprojekte
(s.u.) lässt vermuten, dass mehrere Lizenznehmer von Tolkien Enterprises
auf ein "Tolkien 2000"-Revival hoffen. Die nächsten 2 Jahre werden
zeigen, ob es tatsächlich zu einem erneuten Boom kommt.
Betrachtet man den LotR
und das Rollenspielprinzip im Vergleich, so lässt sich sagen, dass MERP
versucht, Tolkiens Gesamtwerk systematisch
zu erfassen und die dort auftauchenden Figuren in festen Zahlenwerten auszudrücken.
Das heißt, dass eine äußerst gründliche textimmanente Analyse des Textkorpus
hier Grundvoraussetzung ist. Dabei lassen Tolkiens Naturverbundenheit9
und "Abneigung gegen die moderne Technik"10
vermuten, dass er einem solchen Versuch etwas skeptisch gegenüber gestanden
hätte. Das Pressen seiner Welt in greifbare Zahlenwerte und starre
Spielmechaniken hätte ihm sicher nicht besonders behagt, weil sie die
schöpferische Freiheit (vgl. Sub-creation11)
einschränken. Außerdem muss natürlich auch darauf verwiesen werden, dass
Tolkiens Welt in einigen Punkten bei genauer Betrachtung eher unrealistisch
erscheint und nur mit künstlerischer Freiheit zu erklären ist, die anerkannter
Bestandteil fiktionaler Literatur ist. In Rollenspielsystemen aber, die sich um
eine möglichst realistische und unbestechliche Simulation bemühen, stößt man in
der Umsetzung solcher Werke auf Probleme. Dabei ist aber wichtig darauf zu
verweisen, dass solche Unverträglichkeiten in erster Linie in der
unterschiedlichen Natur der beiden benutzten Medien begründet liegen, nicht in
fahrlässiger Umsetzung. So benutzt MERP sehr gewissenhaft die elbischen
Sprachen, auch für neue Namensbildungen, so dass ein äußerst konsistenter
Eindruck entsteht und ohne genaues Nachforschen oft nicht erkennbar ist, ob ein
Wort von Tolkien selbst oder den Spielautoren stammt. Das Wort "fana"
(veil=Form) z.B., welches in MERP auftaucht, habe ich in Tolkiens Werk
vergeblich gesucht, es muss aber trotzdem von ihm selbst herrühren (und wurde
offenbar beim Anlegen des Index vergessen): So erwähnt Tyler dieses Wort
bereits vor der Veröffentlichung der Tales12. Wie im Folgenden deutlich wird, sind Fenlon und
Charlton bei der Erstellung des MERP-Systems sehr gewissenhaft vorgegangen. Wie
auch bei einer Verfilmung (oder bei der novelization eines Filmes) zieht
der Wechsel des Mediums aber notwendigerweise Veränderungen mit sich.