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Ainur

Diese höchsten Wesen Ardas (Tolkiens "Erde") zerfallen in die Valar1 und die Maiar ("Diener" der Valar). Sie wurden - noch vor der Welt selbst - direkt von Ilúvatar, dem "Einen" als seine Helfer und Vollstrecker geschaffen2. Obwohl in Tolkiens Werken der Begriff "Gott" nie auftaucht3, stellt sich hier doch ein klares Bild von spirituellen Wesen, welche die irdische Welt erschaffen und über sie wachen, dar. Dabei vermengt Tolkien das christliche Konzept des "Einen Gottes" (Eru / Ilúvatar) einerseits mit der Vorstellung einer hierarchischen Göttersippe (Valar und Maiar) nach antikem Vorbild (griechisch / römisch) andererseits. Das ermöglicht ihm eine Weltdarstellung, die auf eine einzige Quelle zurückgeht, aber trotzdem göttliche Wesen in direkte Interaktion mit irdischen Bewohnern bringt. So leben ganze Stämme von Elves in Valinor, dem Segensreich, mit den Valar zusammen, obwohl sie Ilúvatar nie zu Gesicht bekommen haben. Diese Hybridform lässt die Anleihe aus beiden Religionsvorstellungen zu: So mischen sich Ainur unter die "Kinder Ilúvatars", die irdischen Wesen, in etwa wie Herkules als Halbgott zwischen dem Olymp und der sterblichen Welt stand; Eru als "Der Eine" zieht sich aber aus den irdischen Sphären zurück und interveniert nur noch in besonderen Fällen, so z.B. in der Versenkung Númenors4 - eine direkte Parallele zur biblischen Sintflut. Aber Tolkien verarbeitet hier nicht nur christliche und antike Motive: auch die Götterdämmerung aus der nordischen Überlieferung bindet er in Form der "Last Battle"5 in sein Werk ein.

Je weiter die Zeit fortschreitet in Mittelerde, desto weniger unmittelbarer Einfluss der Ainur ist in Endor spürbar. Im dritten Zeitalter wandeln nur noch wenige von ihnen unerkannt in menschlicher Form durch Mittelerde, um die Herrscher der freien Völker mit weisen Eingebungen zu unterstützen. Unter diesen wenigen sind z.B. die fünf Istari (Wizards)6, zu denen auch Gandalf zählt. Sogar Sauron, der dunkle Herrscher des dritten Zeitalters, ist nur ein schwacher Schatten seines Meisters, Morgoth, welcher Mittelerde in der Altvorderenzeit peinigte. Mit der Abnahme göttlicher Präsenz in der irdischen Welt parallelisiert Tolkien unser modernes Religionsverständnis: Ebenso wie die Menschen Mittelerdes kennen wir direkte Intervention unseres christlichen Gottes nur aus alten Überlieferungen, die in der Bibel zusammengefasst sind - für uns ist dieser Gott allerdings heute nicht mehr konkret fassbar. So deutet Tolkien indirekt an, dass der göttliche Einfluss in modernen Zeiten aus unerkannten Quellen unter uns Gutes wirkt, ohne dass wir diese Quellen wahrnehmen.

In dieser Mischform erhebt sich - besonders aus monotheistischer Perspektive - die Frage, in welchem Maße die Valar und Maiar als "echte" Götter7, als Halbgötter oder etwa als Engel zu verstehen sind. In diesem Zusammenhang kann man das Konzept eines Halbgottes - wie z.B. Herkules der Sohn einer sterblichen Frau war - für die Ainur ausschließen: erstens sind sie rein spirituellen Ursprungs, und zweitens aus keiner Verbindung hervorgegangen - ihr einziger Schöpfer ist (höchst­wahrscheinlich8) Eru, der Eine. Anhand ihrer Herkunft entsprechen die Ainur damit relativ genau dem, was das Christentum unter Engeln versteht: Himmlische Wesen, die als Diener des Einen Gottes fungieren. Trotzdem geht der Tätigkeitsbereich der Ainur weit über das hinaus, was christliche Engel leisten: Sie modellierten die Erde, erschufen Himmelskörper, Pflanzen und sogar Tiere in eigener Regie9. Lediglich die Erschaffung höherer (intelligenter) Lebewesen behielt sich Ilúvatar selbst vor. Doch selbst in diesen Bereich drang einer der Valar vor: Als Aulë - von dem Wunsch beseelt, seinem Schöpfer nachzueifern - die sieben Väter der Zwerge schuf10, stand diese Leistung in keiner Hinsicht der Schöpfung Ilúvatars nach: die Zwerge wurden eine eigenständige und "vollwertige" Lebensform Mittelerdes. Somit stehen die Ainur nach unserem Verständnis zwischen den Begrifflichkeiten von "Göttern" und "Engeln". Tolkien selbst beschrieb sie durchaus als engelshafte Wesen oder Götter11, weist aber darauf hin, dass diese Begriffe relativiert werden müssen. Wie auch bei anderen Kreationen Tolkiens (siehe: Hobbits und Orcs) wird hier deutlich, dass direkte Entsprechungen zu unserer bekannten Welt bewusst vermieden wurden, um nicht an konventionelle Schemata gebunden zu sein. Tolkien entlehnt lediglich Teilaspekte von allgemeinen Begrifflichkeiten, um diese Versatzstücke zu neuen Konzepten zu re-kombinieren.

Interessant wird hier die Umsetzung solch vager Begrifflichkeiten in ein Spielkonzept (das notwendigerweise etwas konkreter werden muss): So wendet sich MERP scharf dagegen12, die Valar als Götter zu bezeichnen, um nicht vor dem Problem zu stehen, ein göttliches Wesen mit harten Zahlen beschreiben zu müssen. Konsequenterweise taucht Ilúvatar (als "echter" Gott) in MERP auch nicht als Charakter auf. Offensichtlich waren die Autoren dieses Systems der Ansicht, echte Götter ließen sich nicht mit numerischen Werten charakterisieren. Die dem zugrunde liegende Frage ist in der Tat mathematischer Natur: indem man einen Charakter mit Hilfe von endlichen Zahlen beschreibt, steht man vor dem Problem, dass immer andere Wesen mit höheren Werten denkbar sind. Wenn einmal eine Figur an bestimmte Charakteristika gebunden ist, so lässt sich im Rahmen des Spielsystems genau ausrechnen, was der betreffende Charakter vermag und was nicht: Wieviel Kraft braucht man, um Berge aufzutürmen? Wie schwer war es für Ossë, die Insel Númenor aus dem Meer zu heben? In jedem Falle sind hier die Antworten immer endlich. Und in der Tat verfügen die Valar auch nicht über uneingeschränkte Kräfte: Sie haben ihre Grenzen wie alle anderen Wesen Endors auch. Nun ist für unser christliches Verständnis aber offenbar gerade die Un-endlichkeit ein wesentliches Kriterium für einen "echten" Gott. Dagegen mag man einwenden, wenigstens die Lebensdauer der Ainur sei unbegrenzt - aber das trifft auf Tolkiens Elves ebenso zu. So hat man in Arda am ehesten den Eindruck eines fließenden Übergangs von höheren zu irdischen Wesen, nicht zuletzt anhand von Ehen, die diese beiden Gruppen verbinden - und sogar Kindern aus solchen Verbindungen13. So ist verständlich, warum MERP die Trennlinie, die Götter von Nicht-Göttern trennt, gleich hinter Ilúvatar zieht: Er ist der Einzige, dessen Kräfte nicht messbar scheinen: Während selbst die mächtigsten der Valar zahlreichen Einschränkungen unterliegen und keinesfalls omnipotent oder allgegenwärtig sind, ist er "Der Eine", der sich jeder Abwägung entzieht14.

Außerdem kommen hier in MERP spielinterne Motivationen zum Tragen: Gerade die direkte Einflussnahme der Ainur auf das Schicksal Ardas macht einen besonderen Reiz in Tolkiens Werk aus. Wer den eher unscheinbaren Magier Gandalf bereits aus dem Hobbit kennt, kommt aus dem Staunen kaum heraus, wenn nach dem Durchforsten verstreuter Fragmente aus den Unfinished Tales plötzlich dessen wahre Identität als unsterblicher Abgesandter Valinors offenbar wird15. Indem der Leser den sich verdichtenden Hinweisen im LotR und im Silmarillion nachgeht, nimmt er an der Ergründung dieses Geheimnisses beinahe aktiv teil. Solche Prozesse machen einen großen Teil der Faszination von Literatur aus, und so verwundert es nicht, dass Autoren von Rollenspielsystemen bestrebt sind, diese Faszination für ihr Werk einzufangen. So bietet besonders dieser Aspekt von Tolkiens Welt einen ungeheuren Reiz, z.B. in die Rolle eines Elben zu schlüpfen, der einem leibhaftigen Vala gegenüber steht.

Die unterschiedlichen Schicksale von einzelnen oder Gruppen von Ainur werden unter "Charaktere" untersucht. Im Besonderen hervorgehoben werden hier die Istari (Wizards) und einige gefallene (d.h. abtrünnige) Ainur, zu denen Morgoth, Sauron und die Balrogs zählen.

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1Valar: Plural, Vala: Singular. Vgl. auch Ainur, Maiar, Eldar etc.

2Silmarillion, p.21.

3die Religiosität von Tolkiens Werk ist implizit und findet sich in seiner Ethik und Symbolik wieder. Vgl. dazu Dowie, William: "The Gospel of Middle-earth", in: Salu (1979), p.283.

4Silmarillion, p.335. Die versunkene Insel wird danach mit "Atalantë" bezeichnet, was überdeutlich an Atlantis angelehnt ist. Fonstad (1981), p.52.

5vgl. Duriez (1992), p.146.

6Tales, p.579.

7vgl. z.B. Day (1993), p.241.

8Hierüber herrscht keine endgültige Sicherheit, besonders wenn man die "River-woman's daughter" Goldberry (LotR I, p.165) als Maia einstufen will. Da aber Tom Bombadil und Goldberry ohnehin Anomalien innerhalb Tolkiens Welt darstellen, gehe ich hier davon aus, dass alle Ainur direkt und ungeschlechtlich aus Ilúvatar hervorgegangen sind. Vgl. dazu Tom Bombadil, p..

9Silmarillion, pp.39.

10Silmarillion, p.50.

11Letters, #131, p.146.

12Fenlon (1993), p.25: "The Valar are not Gods, of course, although they are often mistaken as such by Men."

13So heiratete die Maia Melian den Elbenkönig Thingol von Doriath und wurde die Mutter von Lúthien. Silmarillion, p.409.

14Fenlon (1993), p.21: "They [the Valar] ...possess emotions, and suffer imperfections. Only Eru is perfect and all-knowing."

15Tales, pp.503+579.

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